Öffentliche Ring-Vorlesung:
PETER HANDKE intermedial – Peter Handkes Bild/Sprach-Landschaften
A B S T R A C T S
Evelyne Polt-Heinzl (Wien)
Buchgeschenke zum 75er. Die Obstdiebin und anderes
In ihrem Vortrag wird Fr. Dr. Polt-Heinzl vor allem den neuesten Roman (Die Obstdiebin) von Peter Handke vorstellen, der von der Kritik überwiegend freundlich bis hymnisch aufgenommen worden ist und einem Eintrag ins Journal Vor der Baumschattenwand nachts (2016) zufolge eine Art modernes Seitenstück („Parzivals Schwester?“) zu Wolfram von Eschenbachs Epos in den Raum stellt. Die „geduldige Arbeit“ an seinen „Lebensthemen“ wie z.B. die „Bürde familiären Erbes […] oder die schwierige Balance zwischen Sehnsucht nach Zugehörigkeit und dem Bedürfnis nach Distanz“ nötigt wohl einige Geduld ab, um den Autor auf seiner Fußreise in die Picardie begleiten zu können, entschädigt jedoch, trotz mancher epiphanischer Momente mit immer wieder überraschenden Desillusionierungen idyllisch wirkender Settings. Wie die Literaturkritik mit diesem gegen den Trend gesetzten Schreibhabitus umgeht, ist ein weiterer Aspekt, der zur Diskussion gestellt wird.
Im Anschluss an diesen Vortrag ist ein (kleines) Podiumsgespräch vorgesehen, und zwar unter dem Motto der abschließenden LV-Einheit: Handke und kein Ende?
Barbara Neymeyr (AAU)
Trauma und Melancholie: Peter Handkes „Wunschloses Unglück“
Die (auto)biographisch grundierte Erzählung, in der sich der Autor 1972 mit dem Suizid seiner Mutter auseinandersetzt, gilt als Handkes populärstes Buch. Einen experimentellen Reflexionsraum eröffnet der Text, indem er Ambivalenzen, Brüche, Traumata und Aporien eines repräsentativen Frauenschicksals in dörflichem Milieu beleuchtet, um zu zeigen, auf welche Weise gesellschaftliche Mechanismen und Anpassungsdruck die Emanzipationswünsche der Protagonistin und ihren Anspruch auf Individuation scheitern ließen: bis zur unheilbaren Melancholie. – Der Vortrag analysiert die sozialpsychologischen Dimensionen der Erzählung und untersucht zugleich ihr Changieren zwischen empathischer Identifikation und abstrahierender Distanz, zwischen präziser Beobachtung und anekdotischer Schilderung, zwischen poetologischen Überlegungen zu Strategien des Erzählens, Sprachexperimenten und einer Kapitulation vor dem Unsagbaren.
Thorsten Carstensen (Indiana University – Purdue University Indianapolis)
Romanische Erzählstrategien – Peter Handkes Gaukelspiele mit der Wirklichkeit
Unter dem Datum des 29. November 1987 findet sich in Peter Handkes Reisejournal eine bemerkenswerte Schreibanweisung: Er wolle den Bildverlust, sein nächstes großes Epos, „romanisch erzählen“, notiert der Autor während eines Aufenthalts in Split. Das Adjektiv ist so doppeldeutig wie irreführend: Handke bezieht sich nämlich auf die romanische Baukunst und Architektur, deren mittelalterliche Formensprache ihm als Leitlinie für ein episches Erzählen dienen soll, welches hinter die Moderne zurückgeht und doch fest in der Alltäglichkeit verankert ist. Handke nähert sich der Romanik allerdings nicht mit dem Gestus des Kunsthistorikers: Nicht als systematische, stoffgeschichtliche Rezeption vollzieht sich seine Auseinandersetzung, sondern vielmehr als begeistertes Sich-Einfühlen in eine ästhetische Tradition, als deren Nachfahr er sich versteht.
In seinem Vortrag zeigt Thorsten Carstensen auf, welche neuen Perspektiven sich auf Handkes Ästhetik der Wiederholung und Dauer eröffnen, wenn man den Hinweisen auf die „romanische“ Grundierung seines Schreibprogramms folgt. Romanisch zu erzählen heißt demnach, mythische Urbilder und archaische Konstellationen variierend zu wiederholen. So wie in den romanischen Szenerien die Zeit verräumlicht wird, weil Geschichten nicht linear, sondern durch Konstellationen von analogen oder simultanen Ereignissen erzählt werden, will Handkes Epik Dauer erzeugen, indem sie an die Stelle eines traditionellen Plots traumartige Bilderfolgen setzt. Zugleich führen die ekphrastischen Beschreibungen mittelalterlicher Baukunst, wie sie in den Journalen zu finden sind, zurück auf die in Handkes Texten unablässig evozierte Kindheitslandschaft: „Bin ich nicht von dem romanischen Kirchenschiff meines Heimatdorfes beeinflußt? (Das wäre Psycho-Analyse).“
Thorsten Carstensen war bis 2012 Lehrbeauftragter am Department of German der New York University, seit 2012 ist er Assistant Professor an der Indiana University – Purdue University Indianapolis (IUPUI). Bisher hat er wissenschaftliche Publikationen zu Peter Handke, Hermann Broch, J. M. Coetzee und Wes Anderson vorgelegt. Zusammen mit Nicholas Jacobs ist er Herausgeber der ersten ungekürzten englischen Übersetzung von Hans Falladas Roman Wolf unter Wölfen (Wolf Among Wolves, 2010). Sein Buch Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition ist 2013 im Wallstein Verlag erschienen.
Christoph Kepplinger-Prinz (Handke online)
‚Leuchtende Fragmente‘. Über Peter Handkes Notizbücher und Journale
Am 5. März 1976 begann Peter Handke sein Projekt des journalartigen Notierens – eine konsequente ›Reportage‹ sämtlicher Bewusstseinseindrücke und gleichzeitig Mittel zur asketischen Selbststeigerung. Die Ernsthaftigkeit seines Unternehmens beweisen die über 20.000 seither entstandenen eng beschriebenen Notizbuchseiten (die Hälfte ist für die Öffentlichkeit in Archiven einsehbar). Das Notieren verstand Handke von Anfang an nicht nur als Vorbereitung auf seine Werke, sondern als eigenes Schreibprojekt, das zur Veröffentlichung bestimmt war – eine Auswahl seiner Notizen erschien bereits im selben Jahr in verschiedenen Zeitschriften und in chronologischer Folge dann in sieben Journalen. Damit erhielt das Fragmentarische der Notiz Bedeutung als neue, dem augenblickshaften Empfinden der Wirklichkeit entsprechende Kunstform. Es forderte, im Unterschied zu privaten Tagebuchaufzeichnungen, eine Fokussierung auf das allgemein Relevante. Der Vortrag will dieses für Handkes gesamte Arbeit zentrale Projekt beschreiben und durch Faksimiles der Notizbücher aus dem Vorlass veranschaulichen. Was macht das Notieren aus? Welche Rolle spielt es im Arbeitsprozess? Wie verändert es sich? Was wird in die Journale übernommen und wie lassen sich die Journale im Kontext seines Gesamtwerks beschreiben?
Christoph Kepplinger-Prinz, geb. 1981 in Linz, Studium der Germanistik und Musikwissenschaft an der Universität Wien. 2002, 2003 und 2005 Mitarbeit am Offenen Kulturhaus Linz (u.a. zur Jubiläumsausstellung Stifter 2005). Von 2004-2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums (Symposien: „Ich will kein Theater“ 2006, Kunst und Katholizismus in Österreich 2009, Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief 2011, Publikationen: Werkverzeichnis Elfriede Jelinek 2004, Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek 2005, Ritual.Macht.Blasphemie 2010, Online-Projekte: JeliNetz 2007, Jelinek/Schlingensief/Blog 2011). 2011-2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des FWF-Projekts »Forschungsplattform Peter Handke« am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. DaF-Trainer in Niederösterreich. 2017 Mitarbeit an der Peter Handke-Dauerausstellung in Stift Griffen.
Dominik Srienc (AAU)
Peter Handke und der Bleistift
In diesem Vortrag wird die spezifische literarische Arbeitsweise von Peter Handke vorgestellt und dem Autor Peter Handke über den Weg der Textgenese begegnet, um einen produktionsästhetischen Blick auf das Schreiben und das Instrumentarium – den Bleistift – zu werfen.
Kaum ein anderer Autor hat die Materialität und Medialität seines eigenen Schreibens – manifest in poetologischen Selbstreflexionen über das Schreiben und das Schreibgerät – so intensiv als programmatisch-ästhetische Haltung formuliert wie Peter Handke.
Schon als 14-jähriger Autor schreibt Handke in einem Schulaufsatz über die Füllfeder, auch im Journal Die Geschichte des Bleistifts (1982) finden sich Reminiszenzen an das Schreibgerät. Der Versuch über die Müdigkeit (1989) markiert den Beginn einer Wende im Schreiben Handkes, gilt der Text doch als der erste Prosatext, den Handke vollständig mit dem Bleistift verfasst hat und das in einer Zeit des ständigen Unterwegs-Seins. Der oft mythisierte Wechsel des Schreibgerätes – von der Schreibmaschine zum Bleistift – gilt als zentrales Moment für die Schreibpraxis Peter Handkes. Die erste handschriftliche Fassung ist zugleich die Reinschrift, die der Autor dem Verlag abgibt, auch beim 2017 erschienene Roman Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere (2017) handelt es sich um ein Bleistiftmanuskript.
Anhand der Textgenese des Versuchs über die Müdigkeit lässt sich eine literarische Arbeitsweise ableiten, in deren Zentrum der Bleistift steht, als inszeniertes und hymnisiertes Schreibgerät, als Geste und als literaturmotivisches Element – als Schreiben über das Schreiben. Die Begleitmaterialien zum Versuch – Manuskript, Notizbücher, Druckfahnen – zeigen, dass die materielle Rahmung die Art zu schreiben vorgibt – das Schreiben wird durch die Materialität selbst bestimmt: die Spuren des Schreibvorganges sind zugleich Zeugen einer Selbstreflexivität, die auf den Geste, den Ort und die Zeit des Schreibens verweisen.
Dominik Srienc, geboren 1984 in Kärnten/Koroška, ist Literaturwissenschaftler, Autor und Übersetzer. Arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Robert Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv in Klagenfurt und als Projektmitarbeiter am FWF-Projekt: „Die zweisprachige literarische Praxis der Kärntner Slowenen nach der Einstellung des mladje (1991) und ihre Position im überregionalen literarischen Interaktionsraum“ am Institut für Slawistik (Universität Graz). War nach dem Studium der Germanistik und Slawistik in Wien als ÖAD Auslandslektor in Kirgistan und Armenien tätig, nach der Rückkehr nach Österreich als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, wo er u.a. den Vorlass Gerhard Rühms / Sammlung Wiener Gruppe bearbeitete. Publikationen und Vorträge zur Österreichischen Literatur nach 1945, Literatur der Kärntner SlowenInnen, Neueren Slowenischen Literatur, Archiv/Textgenese/Schreibszene. Dissertationsprojekt zu Florjan Lipuš.
Ute Liepold und Bernd Liepold-Mosser (AAU)
Für und wider das Theater. Ute Liepold über ihre Inszenierung der „Publikumsbeschimpfung“ / Bernd Liepold-Mosser über Handke als Dramatiker
1966 im Frankfurter Theater am Turm unter der Regie von Claus Peymann uraufgeführt, hat die „Publikumsbeschimpfung“ den Autor aus Griffen schlagartig berühmt gemacht. Mit dem sogenannten „Sprechstück“, das eine völlig neue Form des Schauspiels darstellt, beginnt Handkes Karriere als einer der meistgespielten Bühnenautoren des deutschsprachigen Theaters. Aus Anlass des 75jährigen Geburtstags bringt Regisseurin Ute Liepold mit ihrem „Theater Wolkenflug“ die „Publikumsbeschimpfung“ auf die Bühne und besetzt die vier namenlosen Sprecher mit Schauspielerinnen.
Der Bühnenerstling und die danach folgenden frühen „Sprechstücke“ geben den Auftakt für einen Werkkomplex, der im zeitgenössischen Theater singulär ist. Handkes grundlegende Kritik am Theater und seinem Betrieb machte ihn zum Star eines neuen Theaters. Es folgten über 20 Theaterstücke und Übersetzungen, geprägt von der Suche nach neuen Motiven und Formen. Bernd Liepold-Mosser skizziert die Genese dieses Werks und stellt sich mit Handke die grundsätzliche Frage, wie denn Theater heute funktionieren kann.
Vanessa Hannesschläger (Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien)
Modellierungen von Literatur. Materialien, Texte, Daten. Versuch über eine Handke-App
In diesem Vortrag wird eine Pilotstudie vorgestellt, in der der Enwurf zu einer digitalen Edition von Peter Handkes Bühnenwerk „Immer noch Sturm“ (2010) entstanden ist. Die jeweils erste Seite sämtlicher Textfassungen wurde transkribiert und mit TEI P5 markup versehen, das Encoding orientierte sich dabei an konkreten textgenetischen, literaturwissenschaftlichen Fragestellungen (etwa, wie Sofort- von nachträglichen Korrekturen und Überarbeitungen im Zuge der erneuten Niederschrift in der Darstellung unterschieden werden können, oder wie nachweisbare Integration von vorbereitender Lektüre durch den Autor oder seine auf Beiblättern angefertigten Notizen integriert werden können), aus denen Anforderungen für eine Web-Applikation abgeleitet wurden. Ziel dieser Web-Applikation ist es, den Forschungs- und Analyseprozess dieser textgenetischen Daten bestmöglich zu unterstützen. Thematisiert werden also die Schritte des Forschungsprozesses vom analogen Umfeld (Archiv) bis ins digitale (Internet), die der Edieren vorausgehende Analyse genau so wie die Analysemöglichkeiten, die sich aus diesem Forschungsvorgang erst ergeben.
„Immer noch Sturm“ eignet sich ideal für eine Studie zur Modellierung und Verarbeitung von literaturwissenschaftlichen textgenetischen Daten: Übernimmt man die Einteilung der Textzeugen, wie sie auf der Plattform Handkeonline vorgenommen wurde, handelt es sich um fünf Fassungen vor den Druckfahnen (wobei einige Fassungen in weitere Unterstufen [a, b, c, etc.] geteilt werden können). Die zahlreichen kleinen und größeren Veränderungen, die Handke von Fassung zu Fassung vornahm, aber auch die vom Autor während der ersten Niederschrift und den Überarbeitungen angefertigten Beiblätter, machen den Text zum optimalen Ausgangsmaterial, um die Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Annotation textgenetischer Prozesse auszuloten und auf Basis dessen die Verarbeitung und Umsetzung der so generierten Daten zu erproben. Gleichzeitig illustriert das Material die vielen Fallstricke, über die Forschende bei der Arbeit mit Archivmaterial allgemein, insbesondere aber mit Material zu Werken Peter Handkes stolbern können.
Neben einer grundlegenden Einführung in das Thema Datenmodellierung und der Vorstellung der prototypischen Web-Applikation steht in diesem Vortrag vor allem die Reflektion traditioneller literaturwissenschaftlicher Forschung im digitalen Zeitalter und deren Konsequenzen und Möglichkeiten im Vordergrund.
Vanessa Hannesschläger, geboren 1987 in Linz, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ACDH – Austrian Centre for Digital Humanities an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Lehrbeauftragte an der Universität Wien. Zuvor zuständig für die Konzeption und Umsetzung der Plattform Ernst Jandl Online (ein Projekt des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie, in Kooperation mit der Österreichischen Nationalbibliothek). Publikationen und Vorträge zur Österreichischen Literatur nach 1945, Biographietheorie, Archiv und Datenmodellierung.
Mitarbeit am Projekt Handke: in Zungen (auch Teil ihres Dissertationsprojektes)
2017 „Open Minds Award“ in der Kategorie: Female für ihre Arbeit an der TEI Abstracts App.
Corinna Belz (Köln)
Es gibt nichts Unvergänglicheres als die werdende Sprache. Peter Handke, Versuch eines Filmportraits
Anhand von ausgewählten Szenen soll ein Blick auf die Montagetechnik des Films „PETER HANDKE. BIN IM WALD, KANN SEIN, DASS ICH MICH VERSPÄTE“ als Mittel der Verdichtung von Selbstzeugnissen im Dokumentarfilm geworfen werden.
Nach öffentlichen Vorführungen werde ich oft gefragt: „Ist denn Peter Handke wirklich so?“ Es handelt sich hier nur auf den ersten Blick um eine naive Frage, denn sie setzt voraus, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem dargestellten Menschen und dem Menschen in seiner alltäglichen Lebenskontinuität. Portraits waren ursprünglich der Aristokratie vorbehalten und mit ihnen die Einstellung, ein bestimmtes modifiziertes und formalisiertes Verhalten „zur Schau“ zu tragen, ohne sich selbst zu zeigen. Vielleicht ist es ein Merkmal der eindrücklichsten Portraits, wie sie seit der Renaissance in der Malerei entstanden, dass sie Ideal und Individuum vereinen. Das dokumentarische Filmportrait als Versuch einer „herzlichen Erwärmung der Wirklichkeit.“
Corinna Belz studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Medienwissenschaften in Köln, Zürich und Berlin. Als Autorin, Regisseurin und Produzentin war sie an zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen beteiligt. Zu ihren Arbeiten zählt u.a. der Dokumentarfilm „Ein anderes Amerika“ (2002), der für den Grimme-Preis nominiert wurde. 2009 war Belz außerdem in einem Team hochkarätiger Regisseure an der Mammutdokumentation „24h Berlin“ beteiligt. Nachdem sie bereits 2007 mit „Das Kölner Domfenster“ eine preisgekrönte Kurzdokumentation über die Arbeit des Künstlers Gerhard Richter gedreht hatte, realisierte sie 2009 eine abendfüllende Kinodokumentation über Richters Schaffen: „Gerhard Richter – Painting“ startete im Spätsommer 2011 in den deutschen Kinos und wurde 2012 mit dem Deutschen Filmpreis in Gold als Bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Der Dokumentarfilm Peter Handke. Bin im Wald. Kann sein, daß ich mich verspäte war 2016 in den Kinos zu sehen.
Heike Gfrereis (Deutsches Literaturarchiv Marbach und Universität Stuttgart)
Text-Topographie oder: Was sieht man, wenn man Literatur ausstellt
Literatur kann man nicht ausstellen, weil sie eine Kunst ist, die im Kopf stattfindet? Fehlanzeige. Nicht nur bei Peter Handke, bei dem sich die graphische Textur seiner Manuskripte und Notizbücher zu regelrechten Landschaftsformationen auswuchert, als ob das Blei- und Buntstiftgebiet die erste und wichtigste Referenz seiner Texte wäre.
Heike Gfrereis, Gründungsleiterin des 2006 eröffneten Literaturmuseums der Moderne in Marbach und zur Zeit für freie Forschungs- und Ausstellungsprojekte (unter anderem zu Fontane und zu einer Literaturgeschichte der Natur) beurlaubt, stellt unterschiedliche Weisen vor, mit denen Literatur sichtbar und handfest begreiflich wird – und von Anfang an ist.
Primus-Heinz Kucher (AAU)
Erzählen gegen das Verstummen: Handkes ‚Lebensbuch‘ Morawische Nacht
Handkes 560 Seiten lange Erzählung führt uns auf ein Hausboot, verankert in einem Nebenarm der Morawa in der Nähe des Dorfes Porodin. Auf dieses Boot hat der Gastgeber und namenlose Ich-Erzähler, im Text auch als der‚ abgedankte oder Ex-Autor‘ bezeichnet, eine Handvoll Freunde geladen, um ihnen im Lauf einer Nacht die Geschichte seiner großen Rundreise, begonnen als Fl…ucht (aus dem ›Balkan‹), zu erzählen, womit dieser Text auch eine Zäsur zu den vorangegangenen Jugoslawien-Büchern setzt.
Die Flucht-Reise entpuppt sich alsbald als eine Spurensuche in Schlüssel-Räumen des eigenen Lebens und Schreibens. Insofern verbinden sich einzelne ihrer Stationen quer durch Europa (meist abgelegene Orte und ungewöhnliche Anlässen) mit Episoden oder Themen aus vorangegangenen Büchern und fügen diesen neue Kapitel hinzu. Wie so oft bei Handke tritt dabei das Erzählen selbst immer wieder in den Vordergrund, wird auch zum Problem. Doch wie nie zuvor bei Handke zieht sich der Erzähler aus der ihm zugedachten Rolle oft wieder zurück, verstrickt den/die LeserIn in ein (mitunter anstrengendes) Spiel zwischen Inszenierung und ironischer Selbstpreisgabe. Dabei unterstützen ihn und widersprechen ihm Romanfiguren aus früheren Texten, aber auch neu hinzugekommene aus dieser Erzählung, u.a. lästige Zwischenfrager aus der Runde der geladenen Hörer. Der Vortrag versucht dieser Erzählkonstruktion & Spurensuche nachhzugehen, das Gewicht der von Handke selbst schon relativierten Handke-Welt fasslicher zu machen und dabei auch einige zuvor nie zuvor angesprochene Anliegen des (Ex?)-Autors herauszustellen.
Primus-Heinz Kucher lehrt neuere deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt. Forschungs- und Interessenschwerpunkte: deutsche und österr. Literatur seit dem frühen 19. Jhdt., Exil- und Immigrationsliteratur, komparatistische u. kulturwiss. Fragestellungen, literarische Übersetzung und Rezeption; Reise- und Genreprosa, deutsch-jüdische Literatur.
Lothar Struck (Düsseldorf)
Peter Handke im Internet
Die Suche im Internet nach „Peter Handke“ generiert mehr als eine halbe Million Einträge. Viele Einträge sind kommerzieller Natur, beispielsweise von Buchhändlerseiten. Welche Webseiten sind für die Rezeption von Handkes Werk von Relevanz?
Handke selber betreibt keine eigene Webpräsenz. Ersatzweise fungiert die Autorenwebseite seines Hausverlages Suhrkamp als eine Art Sprachrohr. Der erste Einstieg für den interessierten Laien ist jedoch aufgrund ihrer prominenten Platzierung in Suchmaschinentreffern oft genug die Wikipedia-Seite. Singulär ist die sehr gut genutzte Wissenschaftsplattform Handkeonline. Neben einiger Facebook-Gruppen gibt es auch Webseiten von (ehemaligen) Weggefährten Handkes, die sich zum Teil akribisch mit seinem Werk beschäftigen. Wichtiger sind jedoch die prominent postierten Zeitschriftenartikel, Rezensionen und Interviews mit und über den Schriftsteller, die zudem noch im stark frequentierten Aggregator „Perlentaucher“ zusammengefasst sind.
Welche Auswirkungen haben die zum Teil viele Jahre alten, sich häufig kritisch mit den Jugoslawientexten Handkes auseinandersetzenden Texte des Feuilletons für die nachhaltige Rezeption von dessen Werk?
Lothar Struck, geboren 1959 in Mönchengladbach, lebt und arbeitet in Düsseldorf. Er ist Redakteur beim Online-Literaturmagazin „Glanz und Elend“ und betreibt das Weblog „Begleitschreiben“. Im Jahr 2012 erschien sein erstes Buch ‚Der mit seinem Jugoslawien‘ – Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik. 2013 erschien der Essay Der Geruch der Filme – Peter Handke und das Kino. Lothar Struck ist laut Marc Reichwein in einem Artikel bei welt.de der „Mann, der alles über Handke weiß“.
Hans Höller (Universität Salzburg)
Die Schönheit des Erzählens. Zur Poetik Peter Handkes
Als Peter Handke 1979 in der Rede zur Verleihung des Kafka-Preises sein Verlangen nach ‚Schönheit’, nach dem ‚Klassischen’ und ‚Universalen’, formulierte, wirkte dieser Anspruch für viele Handke-LeserInnen irritierend. Aber irritierend wirkt letztlich jedes neue Handke-Buch, weil jedes seine neuen Schönheiten hat, seine neuen und alten Schönheiten.
In der Vorlesung sollte die Frage nach dem Schönen konkretisiert werden. Dazu ist der Singular zu verwandeln in die Frage nach den vielen beschreibbaren Formen erzählerischer Schönheit. Was heißt zum Beispiel das Handke-Wort „die Dinge zum Leuchten bringen“? Und wie zeigt sich dieses Leuchten in der Textgestalt? …
Ohne „Wissenswürdiges im Innern“ gibt es, nach einem Wort von Walter Benjamin, „kein Schönes“. Worin liegt dieses Wissen, mit dem wir vom Erzähler ‚gewürdigt’ werden? Es kann dabei doch nur (nur?) um ein Wissen für uns und über uns gehen, ein Wissen von der Welt, und, darauf läuft die Handke-Vorlesung zur „Schönheit des Erzählens“, hinaus: um ein geschichtliches Wissen.
Vielleicht verwahren sich Handkes Erzählungen so vehement gegen die gängige, herrschende Geschichte, weil es ihnen um eine uns betreffende, uns würdigende andere Geschichte geht. Wenn man sie in den Werken Handkes mitliest, wird uns die Schönheit seines Erzählens noch verständlicher erscheinen.
Hans Höller war bis 2012 Univ. Prof. für Neuere Deutsche Literatur an der Universität. Salzburg. Er ist Verfasser zahlreicher Studien zur deutschen, französischen und österreichischen Literatur vom 18.-20. Jahrhundert, Herausgeber der neuen kritischen Bachmann-Edition, mehrerer Bachmann-Briefeditionen sowie ihrer Lyrik aus dem Nachlass, Verfasser von Thomas Bernhard-, Ingeborg Bachmann- und Peter Handke-Monographien, Studien zu Jean Améry, F. Grillparzer, Fred Wander, Peter Weiss u.v.a.m.
Raimund Fellinger (Suhrkamp Verlag)
„Dieses Buch wird seine Leser finden“ Peter Handke als Literaturstratege
Der Autor – um eine von Walter Benjamin auf Literaturkritiker gemünzte These abzuwandeln – als Stratege im Literaturkampf? Peter Handke würde sich einer solchen Beschreibung seiner Position in der Literatur der letzten 50 Jahre vehement widersetzen. Doch er hat nicht seine Bücher gegen die Kritk und die Leser immer erneut durchsetzen müssen – mit Erfolg bis auf den heutigen Tag? Welche Konsequenzen das Streiben nach dem Neuen, Nicht-Gesagten für die Entstehung, Produktion und Verbreitung der eigenen Werke nach sich zieht, wird aus Verlagsperspektive verhandelt.