Robert Musil und die Bibel: „Laientheologie“ zwischen Dichtung und Religion?
Robert Musil und die Bibel: „Laientheologie“ zwischen Dichtung und Religion?
Internationale Arbeitstagung
Hybrid (Klagenfurt & Online)
06. – 08. November 2023
ACHTUNG:
Beginnzeit der Tagung am 06. 11. 2023 ist 16.00 Uhr!
Veranstalter:
Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv
Forschungsprojekt MUSIL ONLINE – interdiskursiver Kommentar
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
Fakultät für Kultur- und Bildungswissenschaften
in Kooperation mit:
Internationale Robert-Musil-Gesellschaft
Forschungszentrum Religion and Transformation in Contemporary Society (RaT) an der Universität Wien
Katholischer Akademikerverband Kärnten
Wissenschaftliche Leitung: Artur R. Boelderl (RMI/KLA) und Andreas Telser (RaT)
„Sektionschef Tuzzi“, so lesen wir in Musils Notizen zum Aufbau seines großen Romans, als dieser noch den Arbeitstitel Der Erlöser trug (1921/22), „liest nur Homer und die Bibel“ (KA/Lesetexte/Der Mann ohne Eigenschaften/Die Vorstufen/Aus dem Nachlass Ediertes/Der Erlöser/Der Erlöser. Aufbau/Zu einzelnen Kapiteln/559). Im Rahmen der Fortsetzung des 1930 und 1932 in zwei Teilbänden erschienenen Buches Der Mann ohne Eigenschaften gibt die „Zwillingsschwester“ Agathe ihrem Bruder Ulrich dann im Grundentwurf des Kapitels Wandel unter Menschen (1933/34) lächelnd den Rat „Lies die Bibel!“ (KA/Lesetexte/Band 3/Der Mann ohne Eigenschaften/Die Fortsetzung/Fortsetzungsreihen 1932-1936/Neuansätze/[Grundentwurf]/47. Wandel unter Menschen), nachdem sie ihn bei einem Falschzitat aus derselben erwischt hat.
Und im Nachlass-Kapitel Atemzüge eines Sommertags, an dem der Autor noch am 15. April 1942, dem Tag seines Todes, gearbeitet hat, denkt Agathe „daran, daß beide diese Namen [sc. das Tausend-jährige Reich und das Reich der Liebe] schon seit den Zeiten der Bibel überliefert werden und das Reich Gottes auf Erden bedeuten, dessen nahe bevorstehender Anbruch in völlig wirklicher Bedeutung gemeint ist“ (GA 4, S. 428), und auch Ulrich benützt „zuweilen diese Worte ebenso unbefangen wie seine Schwester“, „ohne deshalb an die Schrift zu glauben“ (ebd.).
Niemand Geringerer als der späte Northrop Frye hat zunehmend prononciert die für die Literaturwissenschaft (wenigstens die angelsächsische – von Harold Bloom und Margaret Atwood bis Frederic Jameson) immens wirkmächtige These vorgebracht, der zufolge „[j]ede menschliche Gesellschaft eine durch die Literatur vermittelte, verschiedenartige Mythologie (besitzt), die sie geerbt hat“ (Frye 2013a [1990], S. 8) und dass insbesondere die Bibel in ihrer Doppelstruktur einen „großen Code“ darstelle, ohne dessen Kenntnis in inhaltlich-thematischer ebenso wie formal-ästhetischer Hinsicht ein Großteil der westlichen Literatur schlicht unverständlich bleibe (vgl. Frye 2007 [1981] bzw. 2013b [1991]). Ist eine solche Betrachtungsweise auch für das Werk Musils aufschlussreich? Was hat es mit den angeführten, über nahezu die gesamte Entstehungszeit des Romans (und nicht nur für diesen Teil seines OEuvres) bemerkenswert konstanten Bezugnahmen auf die Bibel bei Musil auf sich – die für die erste Bearbeitergeneration desselben noch ganz präsent waren (vgl. Deibler 2003, S. 15), während sie in den letzten Jahren und Jahrzehnten in der Musilforschung doch deutlich in den Hintergrund der Aufmerksamkeit getreten sind –, was zumal mit Musils späten Notizen zur Laientheologie (vgl. GA 12, S. 539–545; s. auch Boelderl 2023)?
Die Zielsetzung der Tagung besteht darin, im Anschluss an diese und ähnliche Fragestellungen interdiskursive Vernetzungen zwischen Dichtung und Religion(swissenschaft) bzw. Literatur und Theologie in Musils Werk in historischer wie systematischer Perspektive zu untersuchen.
Erwünschte Ergebnisse sind neue Diskursbeiträge als Referenztexte für den Online-Kommentar, der im Zuge des FWF-Projekts MUSIL ONLINE – interdiskursiver Kommentar (2018–2024) am RMI/KLA entwickelt wird. Darüber hinaus ist die Veröffentlichung der (von den Autor*innen freigegebenen) Vorträge über den Youtube-Kanal des RMI/KLA ebenso geplant wie die Publikation ausgewählter Beiträge in schriftlicher Form (Print & eBook).
Die Tagung wird hybrid abgehalten, das heißt: Für auswärtige Interessent*innen ist die Teilnahme online vorgesehen.
Zugangslink:
AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE
Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz, der Schweizer Bischofskonferenz u. a. vollständig durchges. und überarb. Ausg. Stuttgart: Katholische Bibelanstalt 2016.
Musil, Robert: Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta unter Mitwirkung v. Rosmarie Zeller. DVD-ROM Klagenfurt 2009, Update 2015. (= Klagenfurter Ausgabe, zit. mit Sigle KA + Band- bzw. Stellenangabe)
Musil, Robert: Gesamtausgabe. 12 Bde. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg-Wien 2016–2021. (zit. mit Sigle GA + Band- und Seitenangabe)
Balázs, Zoltán: Does the sovereign exist? Robert Musil’s political theology. In: International Journal of Philosophy and Theology 83 (2022) 1-3, S. 163–179.
Beriaschwili, Mamuka: ,Eigenschaft‘ in Selbst- und Gotteserkenntnis. Überlegungen zu Eckhart, Hegel, Heidegger und Musil. In: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch, Orrin F. Summerell (Hg.): Selbst – Singularität – Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus. Amsterdam u. a.: Grüner 2002, S. 279–296.
Boelderl, Artur R.: Un(d)summen: Batailles und Musils Atheologien. Impulsbeitrag zum DFG-Workshop Georges Bataille, das Vulnerabilitätsdispositiv und die Theologie. Eine heterologe Erschließung, Würzburg, 03./04.02.2023, unveröff.
Cillien-Naujeck, Ursula: Was kann ich wissen – was darf ich glauben? Eine vergleichende Rezeption der Philosophie Franz Fischers und des Romans Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. In: Pädagogische Rundschau 48 (1994), H. 2, S. 233–242.
Classen, Albrecht: Robert Musils Novelle Tonka im Licht des Neuen Testaments. In: Colloquia Germanica 21 (1988) 2/3, S. 169–184.
Colpe, Carsten: Weltdeutungen im Widerstreit. Berlin-New York: De Gruyter 1999. (= Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 100)
Cometti, Jean-Pierre: Temps et narration. „An Land kommen die Götter noch zu den Menschen“. In: Musil-Forum 10 (1984), S. 99–104.
Deibler, Peter: Ist der ,Mann ohne Eigenschaften‘ ein Gottsucher? Die Erfahrung der Fraglichkeit als Element moderner Weltwahrnehmung. Frankfurt a.M. u. a.: Lang 2003 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1834).
Deibler, Peter: Eine Theologie des Fragens. Musil und der Mann ohne Eigenschaften. In: Herta Nagl-Docekal u. a. (Hg.): Jenseits der Säkularisierung. Religionsphilosophische Studien. Berlin: Parerga 2008 (= Schriften der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie, Bd. 9), S. 205–226.
Ego, Werner: Abschied von der Moral. Eine Rekonstruktion der Ethik Robert Musils. Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag und Freiburg i. Br.-Wien: Herder 1992. (= Studien zur theologischen Ethik, Bd. 40)
Fanta, Walter: Statt Religion Literatur, statt Literaturwissenschaft Theologie. Zum Gottesbegriff bei Robert Musil. In: Rudolf Langthaler, Wolfgang Treitler (Hg.): Die Gottesfrage in der europäischen Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts. Wien u. a.: Böhlau 2007, S. 187–205.
Frank, Manfred: Remythisierte Erkenntniskritik (Robert Musil). In: Ders.: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. II. Teil. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 315–332.
Frye, Northrop: Der große Code. Die Bibel und Literatur. Übers. v. Peter Seyffert. Hg. v. Peter Tschuggnall. Anif/Salzburg: Mueller-Speiser 2007. (= Im Kontext. Beiträge zu Religion, Philosophie und Kultur, Bd. 27)
Frye, Northrop: Machtvolle Worte. Eine zweite Studie über „Bibel und Literatur“. Übers. v. Peter Seyffert. Hg. v. Peter Tschuggnall. Anif/Salzburg: Mueller-Speiser 2013. (= Im Kontext. Beiträge zu Religion, Philosophie und Kultur, Bd. 34)
Frye, Northrop: Die doppelte Vision. Sprache und Bedeutung in der Religion. Übers. v. Peter Seyffert. Hg. v. Peter Tschuggnall. Anif/Salzburg: Mueller-Speiser 2013. (= Im Kontext. Beiträge zu Religion, Philosophie und Kultur, Bd. 36)
Fuld, Werner: Die Quellen zur Konzeption des „anderen Zustands“ in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 664–682.
Goltschnigg, Dietmar: Mystische Tradition im Roman Robert Musils. Martin Bubers Ekstatische Konfessionen im Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg: Lothar Stiehm 1974.
Gschwandtner, Harald: Ekstatisches Erleben. Neomystische Konstellationen bei Robert Musil. München: Fink 2013. (= Musil-Studien, Bd. 40)
Harrington, Austin: Von der „intellektuellen Rechtschaffenheit“ zur „taghellen Mystik“. Aspekte und Differenzen einer Glaubenskonzeption bei Max Weber, Georg Simmel und Robert Musil. In: Gerald Hartung, Magnus Schlette (Hg.): Religiosität und intellektuelle Redlichkeit. Tübingen: Mohr Siebeck 2012 (= Religion und Aufklärung, Bd. 21), S. 99–124.
Heintel, Erich: Glaube in Zweideutigkeit. Robert Musils Tonka. In: Uwe Baur, Dietmar Goltschnigg (Hg.): Vom Törleß zum Mann ohne Eigenschaften. München-Salzburg: Fink 1973, S. 47–88. (= Musil-Studien, Bd. 4)
Hofmeister, Heimo: Der ‚Mann ohne Eigenschaften‘ – ein protestantischer Gottsucher? In: Michael Bünker, Karl W. Schwarz (Hg.): Protestantismus & Literatur. Ein kulturwissenschaftlicher Dialog. Wien: Evangelischer Presseverband 2007 (= Protestantische Beiträge zu Kultur und Gesellschaft, Bd. 1), S. 541–561.
Holzhey, Christoph F. E.: Kon-Fusionen von Mystik, Wissenschaft und Sexualität in Robert Musils Törleß. In: Olaf Berwald (Hg.): Der untote Gott. Religion und Ästhetik in der deutschen und österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln u. a.: Böhlau 2007, S. 57–78.
Hyams, Barbara: Was ist „säkularisierte Mystik“ bei Musil? In: Uwe Baur, Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königstein/Ts.: Athenäum 1980, S. 85–98.
Kalow, Gert: Zwischen Christentum und Ideologie. Die Chance des Geistes im Glaubenskrieg der Gegenwart. Kritische Versuche zu Lautréamont, Robert Musil, Simone Weil und W. H. Auden. Heidelberg: Rothe 1956.
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Reinhardt, Ursula: Religion und moderne Kunst in geistiger Verwandtschaft. Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften im Spiegel christlicher Mystik. Marburg: N. G. Elwert 2003. (= Marburger theologische Studien, Bd. 72)
Rußegger, Arno: Vorstellung und Funktion „Gottes“ in den letzten Kapiteln von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Dipl.-Arb., Univ. Klagenfurt, 1984.
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Sokel, Walter H.: Kleists Marquise von O., Kierkegaards Abraham und Musils Tonka. Drei Stufen des Absurden in seiner Beziehung zum Glauben. In: Karl Dinklage (Hg.): Robert Musil. Studien zu seinem Werk. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970, S. 57–70.
Spencer, Malcolm: „Vater, Gottvater, Landesvater“. Vaterfiguren bei Robert Musil und Joseph Roth. In: Endre Hárs, Wolfgang Müller-Funk, Magdolna Orosz (Hg.): Verflechtungsfiguren. Intertextualität und Intermedialität in der Kultur Österreich-Ungarns. Frankfurt a.M. u. a.: Lang 2003 (= Budapester Studien zur Literaturwissenschaft, Bd. 3), S. 113–120.
Spörl, Uwe: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn u. a.: Schöningh 1997.
Strutz, Josef: Ein Platz, würdig des Lebens und Sterbens. Ingeborg Bachmanns Guter Gott von Manhattan und Robert Musils Reise ins Paradies. [1985] In: Christine Koschel, Inge von Weidenbaum (Hg.): Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München, Zürich: Piper 1989, S. 402–417.
Wicht, Gérard: „Gott meint die Welt keineswegs wörtlich“. Zum Gleichnisbegriff in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Bern u. a.: Lang 1984.
Wolf, Norbert Christian: Zwischen Diesseitsglauben und Weltabgewandtheit. Musils Auseinandersetzung mit den Berliner literarischen Strömungen. In: Annette Daigger, Peter Henninger (Hg.): Robert Musils Drang nach Berlin. Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers. Bern: Peter Lang 2008, S. 185–230.
Zeller, Rosmarie: Systeme des Glücks und Gleichgewichts oder wie Gott Kakanien den Kredit entzog. In: Pierre Béhar (Hg.): Glück und Unglück in der österreichischen Literatur und Kultur. Bern u. a.: Lang 2003, S. 167–177.
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