Call for Abstracts: Das Ohr ist mein Auge
Claudia Dürr, Isabel Langkabel, Wolfgang Straub (Hg.)
„Das Ohr ist mein Auge.“
Auditive und aurale Phänomene im Schreibprozess
Reihe Zur Genealogie des Schreibens
Call for Abstracts
Die Konjunktur der Sound Studies ist längst in den Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften angekommen: Literatur wird auf hörbare Phänomene hin untersucht, das Stimmliche sowie die Musik-Literatur-Zusammenhänge sind breit erforscht. Die Schreibprozessforschung hat diesen Bereich bislang allerdings nur marginal beachtet, obwohl Töne, Geräusche und Klänge zu den zentralen Imaginationsräumen literarischer Produktion gehören. Paul Valéry spricht in einem Konzeptblatt davon, „in die Arbeit hinabsteigen“ und „die Gestalten unmittelbar mit der Hand und der Stimme bewegen“ zu wollen (vgl. Hay 2008, 9) – also den Schreibgesten die Stimme zur Seite zu stellen. Oder mit Roland Barthes gesprochen: „Die Stimme ist, im Vergleich zum Schweigen, wie das Schreiben (im graphischen Sinn) auf weißem Papier. Das Hören einer Stimme eröffnet die Beziehung zum anderen“ (Barthes 2019, 258).
In der Literatur um 1800 waren es die Romantiker, die – Herders Auffassung über den Ursprung der Sprache im Hören rezipierend – „aus dem Rauschen der Natur die legendären Stimmen und Botschaften des Numinosen, Geheimnisvollen und Rätselhaften filterten.“ (Stopka 2011, 142) Hinzu kommt die akustische Dimension in der Rezeption: Eichendorffs Gedichte etwa „geben sich als Lieder und erfordern vom Figurenpersonal in den Texten eine Rezeption, die über das Gehör geht. Und auch der Leser der Texte Eichendorffs befindet sich gelegentlich in der Situation eines Hörenden.“ (Liebrand 2020, 87)
Im 20. und 21. Jahrhundert treten verschiedenste auditive und aurale Konzeptionen auf den Plan. Kafka, Döblin und Bachmann sind wohl jene deutschsprachigen Autor:innen, deren Literatur am intensivsten auf auditive Spuren und Grundlegungen hin analysiert wurden. Der österreichische Schriftsteller Werner Kofler (1947–2011) etwa entwirft den Autor als „Ohrenzeugen“ (Kofler 2018, 51). In seiner Prosa stellt er das Hören der optischen Wahrnehmung gleichbedeutend an die Seite („das Ohr ist mein Auge“, Notiz), wobei die akustische Wahrnehmung in Koflers Poetologie den kreativen Prozess nicht nur befördert, sondern in Hör-Szenen auch als Störfaktor inszeniert wird – bis hin zur Kritik am Zivilisationslärm, gegen den es anzuschreiben gilt.
Der Band Das Ohr ist mein Auge will die Bedeutung des Hörens im Schreibprozess – also akustische, auditive, aurale, klangliche und sonische Phänomene – ergründen. Dabei wollen wir keinen Gegenentwurf zu visuellen – und damit schriftlichen – Phänomenen herstellen, sondern Schrift vielmehr als eigene „tonale Technik zur Erzeugung auraler Phänomene“ (Herrmann 2015, 21) und also Schreiben – unter Einbezug der Subvokalisation – als Wahrnehmungsproduktion verstanden wissen. Dabei geht es nicht um die Analyse kognitionspsychologischer oder neuronaler Prozesse, sondern um die Ergründung ästhetischer Mittel und Effekte.
Eine mögliche analytische Annäherung ist die Orientierung am Konzept der Schreibszene. Der „Umstand, dass der Prozeß des Schreibens im Geschriebenen eine Wiederkehr erfahren kann, die sich wiederum für die Analyse des Schreibprozesses nutzen lässt – auch im Vergleich mit den tatsächlich überlieferten Materialien“ (Giurato/ Stingelin/Zanetti 2008, 12f.) –, lässt sich für den Entwurf einer Hörszene produktiv machen.
Die Untersuchung der Hörszene stellt – über die klanglichen Hervorbringungen des Schreibens oder des/der Schreibenden selbst (das Kratzen der Feder, das Klappern der Tastatur, das Fluchen bei Schreibhemmungen) hinausgehend – die Frage nach Hörimpulsen, nach Klang- und Geräuschkulissen und deren möglichem Einfluss auf die literarische Produktion. In der Analyse von Hör-Szenen wird wiederum der Thematisierung von Geräuschen, Tönen und Klängen im Text nachgegangen. Zentral für die Erforschung von Hör-Szenen wird daher sein, über textimmanente Interpretationen hinaus zu gehen und textgenetische Entwicklungen, historische Konstellationen und/oder Archivalien einzubeziehen.
Mögliche Fragestellungen der Beiträge, zu denen wir – ohne literaturhistorische Beschränkungen – einladen:
- Welche klanglichen Umgebungen werden in das Schreiben bzw. in den Text integriert?
- Welche Technologien und welche Medien sind in der Klangerzeugung und -wiedergabe hier involviert (im Schreibumfeld der Autor:innen / in den Texten)?
Und inwieweit lassen sich hier die Historizität von Klängen und Geräuschen ablesen? - Wie wird das Hören in den Texten figuriert und inszeniert?
- Wie wird das innere Hören der Rezipient:innen im Schreibprozess präfiguriert?
- Lässt sich das Hören und Horchen, wie es uns bei den Romantikern als zentrale poetologische Konfiguration entgegentritt, auf andere Schreibkonstellationen übertragen?
- Welche Wissensformen werden über das Auditive formuliert?
- Inwieweit fließen auditive Erinnerungsspuren bzw. das akustische Gedächtnis in den Schreibprozess ein?
- Lassen sich kalligraphische Analysen produktiv machen? Inwieweit vermitteln Handschriften auditive Elemente – etwa Tonalität, Lautstärke, Rhythmisierungen?
- Welche Aufschreibe- und Notationssysteme lassen sich in der Analyse der Entstehung performativer Literaturformen der (Neo-)Avantgarde (z.B. Fluxus, Lautgedichte, spoken word poetry) feststellen?
Hier kann der Call for Papers als pdf-Datei heruntergeladen werden
Wir bitten, Abstracts in der Länge von max. 3000 Zeichen bis 30. 11. 2023 an isabel [dot] langkabel [at] aau [dot] at zu senden.
Mit der Entscheidung über die Aufnahme in den Band ist bis 31. 12. 2023 zu rechnen. Die ausgearbeiteten Beiträge erwarten wir bis spätestens 30. 4. 2024. Ein Peer-review-Prozess (double blind) ist bis Ende des Sommers 2024 vorgesehen.
Die Publikation ist als Band der Reihe Zur Genealogie des Schreibens (hg. v. Giuriato/ Stingelin/Zanetti) geplant.
Literatur
Barthes, Roland (2019): Zuhören. In: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Berlin, 249–263
Hay, Louis (2008): Materialität und Immaterialität der Handschrift. In: editio, vol. 22, 1–21
Herrmann, Britta (2015): Auralität und Tonalität in der Moderne. Aspekte einer Ohrenphilologie. In: dies. (Hg.): Dichtung für die Ohren. Literatur als tonale Kunst in der Moderne. Berlin, 7–31
Giurato, Davide /Stingelin, Martin/Zanetti, Sandro (Hg.) (2008): „Schreiben heißt: sich selber lesen“. Schreibszenen als Selbstlektüren. München (= Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 9)
Kofler, Werner (2018): Am Schreibtisch. Alpensagen/Reisebilder/Racheakte. In: Claudia Dürr, Johann Sonnleitner und Wolfgang Straub: Werner Kofler. Kommentierte Werkausgabe. Bd II. Wien, 7–134.
Liebrand, Claudia (2020): Dem Rauschen lauschen. Eine Hör-Szene in Eichendorffs „Dichter und ihre Gesellen“. In: Stefan Börnchen, Claudia Liebrand (Hg.): Lauschen und Überhören. Literarische und mediale Aspekte auditiver Offenheit. Paderborn, 87–102
Stopka, Katja (2011): Verklärung und Verstörung. Phonographien des Rauschens in der deutschsprachigen Literatur um 1800 und 1900. In: Marcel Krings (Hg.): Phono-Graphien. Akustische Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur von 1800 bis zur Gegenwart. Würzburg, 141–155.
Die Herausgeber:innen
Claudia Dürr, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Kofler aural. Auralität und Schreibprozess – eine digitale genetische Edition von Werner Koflers Am Schreibtisch“, Robert-Musil-Institut für Literaturforschung, Universität Klagenfurt
Isabel Langkabel, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Kofler aural“, Robert-Musil-Institut für Literaturforschung, Universität Klagenfurt
Wolfgang Straub, Leiter des Projekts „Kofler aural“, Robert-Musil-Institut für Literaturforschung, Universität Klagenfurt; Leiter Handschriften, Musikalien und Nachlässe der Wienbibliothek im Rathaus
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