Kieslers Film Guild Cinema mit Blick auf das Screen-o-Scope (1929) © 2016 Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung. Foto Ruth Bernhard Reproducted with permission of the Ruth Bernhard Archive, Princeton University Art Museum. © Trustees of Princeton University

Avantgarde zwischen Jazz, Girls und Technikeuphorie

Das blühende internationale Kulturleben im Österreich der Zwischenkriegszeit als Großforschungsprojekt.

Coole Musik aus Amerika, neue Körperkonzepte und ein Technikboom prägen das Wien der 1920er Jahre ebenso wie politische Polarisierungen, soziale Reformen und bittere Armut. In der Zwei-Millionen- Einwohner-Stadt finden nach dem Zerfall der Monarchie und nach der russischen Revolution auch viele geflüchtete Juden aus Galizien und ungarische Künstler und Intellektuelle eine neue Heimat und beleben Wissenschaft und Kultur zusätzlich. Frauen erobern neue Berufe und brechen Tabus auf. Der Unterhaltungsbedarf ist groß. Fast 200 Kinos zählt die Stadt, und im Jahr 1930 hören österreichweit schon 400.000 Menschen Radio.

In diesem multikulturellen Melting Pot konnten Literatur, Theater, Musik und Bildende Kunst aufblühen. Retrospektiv wird diese Zeit mit wenigen großen Namen wie Kraus, Musil und Schönberg verbunden. Doch neben ihnen schufen zahlreiche weitere KünstlerInnen auf allen Gebieten erstklassige Werke und beförderten die Avantgarde. „Transdisziplinäre Konstellationen in der Österreichischen Literatur, Kunst und Kultur der Zwischenkriegszeit“ herauszuarbeiten hat sich der Klagenfurter Germanist Primus-Heinz Kucher mit einem internationalen Team in einem großangelegten FWF-Projekt vorgenommen. „Die Kunst der Zwischenkriegszeit wird meist aus dem bundesdeutschen Blickwinkel verhandelt und Wien eher als ein Appendix verstanden“, erklärt Projektleiter Primus-Heinz Kucher. Daher gehe es darum, „die Kulturgeschichte neu zu designen“. Schließlich war Wien in dieser Zeit eines der großen Avantgardezentren der Welt neben Paris, Berlin, Petersburg, Tokio, London und New York.

Das gut dotierte Dreijahresprojekt baut auf einem Vorgängerprojekt zur Literatur der Zwischenkriegszeit auf. Als forscherisches Output stehen weitere Buchpublikationen – vier sind bereits erschienen – und ein umfassendes digitales Kultur-, Literatur- und Kunstarchiv an. Als Forschungsmaterial dienen neben den Originalwerken aus Literatur und allen Kunstsparten die gesamte Bandbreite der damals erschienenen Printmedien und auch Massenprodukte der Unterhaltung und der Reklame.

Theater und Revuen
In Theaterinszenierungen wird enormer technischer Aufwand betrieben. Die größte Sensation war eine dampfende Lokomotive samt Bahnhof in der Wiener Staatsoper 1927 in Ernst Kreneks Oper „Jonny spielt auf“. Die populäre Wochenzeitung „Die Bühne“ schilderte minutiös die technische Szenerie und den – gespielten – Tod eines Schauspielers durch die Lokomotive. Sie produzierte damit einen Aufschrei und überdeckte die sonst kontrovers geführte Kritik zu einem der erfolgreichsten Bühnenstücke der Zwanzigerjahre. Die NSDAP deklamierte es als „Schandwerk eines tschechischen Halbjuden!“. Krenek schaffte dennoch die Synthese zwischen modernem Leben und Opernbühne. Jazz trat den Siegeszug in Europa an und wurde zunehmend für ein bürgerliches Publikum interessant.

Friedrich Kiesler, aus Czernowitz stammender Architekt und Technikvisionär, experimentierte mit den neuen technischen Möglichkeiten für Theaterbühnen und Kino. Seine elektro-mechanischen Kulissen und zukunftsweisenden Theaterausstellungen in Wien, Paris und New York erregten großes Aufsehen. Allen voran sein Film Guild Cinema, bei dem eine spezielle Licht- und Akustiktechnik zur Verschmelzung von Leinwand und Publikum führt, ähnlich dem heutigen 3D-Effekt. Sein Ziel war die Schaffung einer Verbindung zwischen dem Menschen und den technischwissenschaftlichen Errungenschaften. Doch auch in den schreibenden Sparten spielt die Technik eine Rolle, weiß Martin Erian: „Die technischen Innovationen und der zunehmende Verkehr finden massi massiven Niederschlag und werden minutiös in literarischen Texten bis hin zu Lifestyle- Magazinen wie ‚Die Dame‘ verarbeitet.“

Wiener Kinetismus
Das beliebte bewegte Bild im Kino fand die bildkünstlerische Umsetzung im Kinetismus. Häufige Motive waren auch fahrende Lokomotiven und Autos. Eine der schillerndsten Künstlerinnen der Zeit, Erika Giovanna Klien, entwarf das kinetische Marionettentheater. Als hochbegabte Studentin von Franz Čižek, dem theoretischen Begründer des „Wiener Kinetismus“, setzte sie Bewegung, Dynamik und Rhythmus in ein total dynamisches, puristisches Theater um – völlig ohne Schauspieler. Es blieb bei den Entwürfen, Klien wanderte 1929 in die USA aus.

Singles und Girls
Die 1920er waren eine Aufbruchzeit für junge Frauen im urbanen Bereich. Neu waren die selbstständigen „Junggesellinnen“, also die ersten Singles: Frauen, die selbstbestimmt leben wollten und aus dem Modell der schnellen Heirat und dem beschützten Versorgtsein durch den Ehemann ausstiegen. Sie widmeten sich dem Schreiben als Journalistinnen und Autorinnen, waren Stenotypistinnen oder Warenhausverkäuferinnen. Diese neuen Lebenskonzepte fanden regen Niederschlag in der Literatur und im Kino, etwa in der Verfilmung von Georg Fröschls Roman „Weib in Flammen“. Die „Junggesellin“ und die „Kameradin“ waren Vorbild für die Produkte der Unterhaltungsindustrie. Lesbische Beziehungen wurden in der Bildenden Kunst und der Literatur thematisiert Außergewöhnlich zahlreich und erfolgreich waren junge Fotografinnen, meist jüdischer Herkunft. Sie inszenierten den Körper auf eine weiblich-erotische Weise und schufen eine eigene Ästhetik. Illustrierte Magazine dienten als Verbreitungsmedium. Nachdem darin alle Theatersparten inklusive die beliebte Revue bedient wurden, konnten Tänzerinnen und Schauspielerinnen sich fast hüllenlos abbilden lassen. Rebecca Unterberger: „Die progressive Zurschaustellung des nackten Körpers und rauchender Frauen führte zu grundlegenden Veränderungen im weiblichen Habitus und dessen Wahrnehmung.“ So wurden Bubikopf und Shorts alltagstauglich und aus Damen so genannte Girls. Zumindest so lange, bis die Sittenwächter des Ständestaats mit den Verboten ernst machten.

für ad astra: Barbara Maier

Primus-Heinz Kucher, geboren 1956, lehrt Neuere Deutsche Literatur in Klagenfurt und an mehreren ausländischen Universitäten. Er publizierte rund 30 Bücher und ist  Mitbegründer der Exilplattform www.literaturepochen.at/exil.

Rebecca Unterberger, geboren 1983, studierte in Klagenfurt Germanistik. Für die Dissertation zu Ernst Krenek erhielt sie den Wendelin Schmidt-Dengler-Preis 2015. Sie ist Postdoc-Assistentin im Projekt mit Fokus auf (Inter-)Medialität, Avantgarde und Amerika-Russland-Diskurse.

Martin Erian, geboren 1990, studierte in Klagenfurt Germanistik und Geschichte und ist wissenschaftlicher Projektmitarbeiter mit Konzentration auf die Umlegung der urbanen Phänomene auf die zeitgenössische Literatur, im Roman wie im Feuilleton.

Am Projekt arbeiten u. a. noch Julia Bertschik (Berlin), Walter Fähnders (Osnabrück) und Evelyne Polt-Heinzl (Wien) mit.

Martin Erian (links), Primus-Heinz Kucher (mitte) und Rebecca Unterberger (rechts) | Foto: aau/Barbara Maier