Zurückweisung nach Wahlen: Wie fühlt man sich, wenn man für die Verliererpartei gestimmt hat?

Fühlt man sich bei einer Wahl, bei der man für die Verlierer gestimmt hat, ähnlich wie im Schulhof, als die Gruppe nicht mit einem spielen wollte? Die Sozialpsychologin Nilüfer Aydin forscht zu interpersonaler Zurückweisung und hat festgestellt: Eine Wahlniederlage wird wie eine Zurückweisung wahrgenommen. Was das für das soziale Miteinander in unserer Gesellschaft bedeutet und wie der Weg zu mehr sozialer Inklusion gelingen kann, erklärt Nilüfer Aydin im Interview.  

Wie fühlt man sich gemeinhin, wenn man ausgeschlossen und zurückgewiesen wird?

Es gibt inzwischen jede Menge Forschungsergebnisse, die zeigen, dass Zurückweisung eine ganze Reihe negativer Folgen für Betroffene hat. Wir fühlen uns traurig oder wütend, haben das Gefühl, die Situation nicht mehr unter Kontrolle zu haben, und unser Selbstwertgefühl leidet massiv. In der Forschung spricht man auch von „sozialem Schmerz“. Das führt dann oft zu aggressivem Verhalten oder sozialem Rückzug. Die meisten Studien zu den Folgen sozialer Zurückweisung beziehen sich auf Dyaden oder kleine Gruppen. Wir möchten untersuchen, ob diese Reaktionen auch auf einer abstrakteren Ebene auftreten, zum Beispiel, wenn man bei einer politischen Wahl auf der Verliererseite steht.

Gibt es dazu schon Forschung?

Ja, die spärliche Forschung, die es hierzu gibt, konzentriert sich auf amerikanische Wahlen bzw. Wahlergebnisse. Zum Beispiel wurden diese Effekte für die Präsidentschaftswahlen 2016 in den USA erhoben, in denen es um die Entscheidung zwischen Hillary Clinton und Donald Trump ging. Die Forscher:innen konnten damals zeigen, dass viele Wähler:innen, die für Clinton abstimmten, sich zum Teil nicht mehr zugehörig zur Gesellschaft fühlten. Wir wollten dann wissen, ob diese Effekte auch im europäischen Kontext replizierbar sind, weil hierzulande andere Wahlsysteme gelten. Anlässlich der österreichischen Nationalratswahl 2017 haben wir eine repräsentative Stichprobe drei Tage vor der Wahl zu Emotionen, Kontrollwahrnehmung, Selbstwert und Zugehörigkeitsgefühl der österreichischen Gesellschaft durchgeführt. Das haben wir auch damit verknüpft, welche Verhaltensweisen man gegenüber dem Staat zeigt. Dann haben wir sie nach der Wahl nochmals befragt.

Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen?

Aus dieser Wahl ist die ÖVP-FPÖ-Regierung unter Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache hervorgegangen. Wir haben dann diejenigen, die die ÖVP oder die FPÖ gewählt haben, als „Gewinner“ definiert und alle anderen als „Verlierer“. Unsere Ergebnisse zeigten deutlich: Die Verlierer haben sich ausgegrenzt gefühlt, ähnlich wie das bei einer interpersonellen Zurückweisung der Fall ist. Unsere Studie war somit die erste ihrer Art, die Forschungsergebnisse aus dem amerikanischen Raum in einem europäischen Kontext mit Mehrparteiensystem und Verhältniswahlrecht replizieren konnte. In nachfolgenden experimentellen Studien konnten wir auch bestätigen, dass die Gruppe der „Verlierer“ eher zu ungünstigen Verhaltensweisen gegenüber dem Staat neigt, beispielsweise eine höhere Auswanderungsbereitschaft artikuliert oder weniger dazu bereit ist, sich ehrenamtlich zu engagieren.

Auf wen genau bin ich in diesem Fall eigentlich sauer?

Wir haben uns auch das genau angeschaut. Sind es diejenigen, die eine ganz andere Partei als ich gewählt haben, oder eine Partei, die ähnlich meiner ist oder die, die überhaupt nicht gewählt haben? Es hat sich gezeigt: Man ist sauer auf alle. Das Gefühl der Aggression ist dabei diffus, das ähnelt auch Reaktionen nach  interpersonaler Zurückweisung. Da ist eine Rage, die raus muss und auch unbeteiligte Dritte treffen kann.

Inwiefern trägt das Verhalten der Gewinnerparteien nach der Wahl dazu bei, wie sich die Verlierer:innen fühlen?

Joe Biden hat nach seiner Wahl zum Präsidenten gleich gesagt, er wolle der Präsident von allen sein, nicht nur jener, die ihn gewählt haben. Je weniger sich Gewinnerparteien so verhalten, umso stärker sind die Spaltung, die Polarisierung, die Entfremdung und damit auch die Exklusionsgefühle. Die Frage, wie sich die Gräben schließen können, beschäftigt in der westlichen Welt aktuell viele. Ich glaube, dass man hierzu auch noch viel forschen muss. Denn letztlich wird es bei demokratischen Wahlen immer Gewinner:innen und Verlierer:innen geben, und wir müssen angesichts der aktuellen Krisen dringend mehr darüber wissen, wie wir mit diesen Konsequenzen der Zurückweisung besser umgehen können. Das ist auch ein Ziel unserer Forschung.

Wie geht man auf einer individuellen Ebene mit Zurückweisung um, und kann man daraus etwas für diese abstrakte Zurückweisung bei Wahlen ableiten?

Auf der individuellen Ebene gibt es viele Antworten, welche Strategien nützlich sind: Natürlich geht es primär erst einmal darum, sich wieder in irgendeiner Form inkludiert zu fühlen – sei es dadurch, dass ich mir aktiv soziale Unterstützung suche oder mich einfach an meine eigenen sozialen Kontakte erinnere. Auch die Selbstbestätigung meiner Person kann beispielsweise helfen, wieder meinen Selbstwert zu erhöhen und gefühlte Kontrolle über die Situation zu erlangen. Das mindert den Schmerz. Wir müssen uns jetzt also fragen: Wie schaffen wir es, dass Menschen ihre erschütterten Grundbedürfnisse wiederherstellen können, ohne sich in einer Blase auf  Social-Media-Plattformen zu isolieren, wo sie im Extremfall nur noch unter ihresgleichen sind. Welche konkreten Interventionen bei einer abstrakten Zurückweisung hilfreich sind, gilt es in zukünftigen Studien zu erforschen.

Suchen wir nicht immer nach unseresgleichen?

Der Mensch ist nicht dafür gemacht, sich das genaue Gegenteil zu suchen. Auf Menschen mit anderen Haltungen zuzugehen, erfordert Überwindung und eine hohe Selbstregulation. Wir haben ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, den need to belong, und das suchen wir eher bei Menschen, die den gleichen Wertekanon vertreten. Das ist auch die Grundbedingung für längere Beziehungen, die wir mit unseren Verhaltensweisen anstreben, und die seit der Steinzeit unser Überleben gesichert haben. Deshalb sind wir auch so sensibel auf Zeichen der Zurückweisung und des Ausschlusses in unserem Umfeld. Dessen müssen wir uns bewusst sein.

Ähnliche Ausschlussphänomene beobachten wir auch schon bei Kindergartenkindern.

Ja, das scheint in uns angelegt zu sein: Wer gehört in meine Gruppe? Wer entspricht der Norm? Kinder können da mitunter auch sehr explizit sein. Wir alle sind Mitglieder verschiedener sozialer Gruppen. Diese Gruppen bilden und prägen unsere soziale Identität. Wir müssen erst lernen, dass verschiedene Personen mit verschiedenen Merkmalen in der gleichen Gruppe sind und dass das bereichernd sein kann. Wir sollten uns auch klar machen, dass es neben unserer Eigengruppe immer höhere Kategorien gibt, unter denen wir uns alle versammeln können – letztlich gehören wir alle der Überkategorie Mensch an. Auch wenn es schlicht nicht möglich ist, interpersonelle und gesellschaftliche Ausgrenzung komplett zu vermeiden, wäre schon viel gewonnen, wenn wir uns dessen bewusst wären und entsprechend handeln würden.

Zur Person



Nilüfer Aydin ist seit 2014 Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Klagenfurt. Sie absolvierte das Studium der Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Nach ihrer Promotion und Habilitation an der LMU München war sie von 2011 bis Anfang 2014 als Vertretungsprofessorin für Sozialpsychologie an der Karl-Franzens-Universität Graz und an der LMU München tätig. In ihrer experimentellen Forschung setzt sie sich vor allem mit den Folgen sozialer Ausgrenzung auseinander und beschäftigt sich mit Fragestellungen aus der Stereotypen- und Vorurteilsforschung.