Warum wir die öffentliche Schule dringender denn je brauchen
Die öffentliche Schule war für (fast) alle da. Dort konnten wir uns angeleitet von pädagogischen Profis darüber verständigen, was wir wissen und was wir für die Wahrheit halten. Heute gerät beides ins Wanken. Der Bildungswissenschafter Bernhard Hemetsberger hat sich mit den Krisen-Narrativen in den Bildungsdiskursen im deutschsprachigen Raum und in den USA über 250 Jahre hinweg beschäftigt. Daraus entstand ein eindringliches Plädoyer für ein starkes öffentliches Schulsystem, das zentral für gesellschaftlichen Zusammenhalt ist.
Sie haben 2023 ein Buch mit dem Titel „Schule am Ende?“ veröffentlicht. Am Ende steht ein Fragezeichen. Ist die Schule hierzulande am Ende?
In meinem Buch spreche in konkret über die öffentliche, also staatlich finanzierte und kontrollierte Schule. Sie ist eine der letzten allgemeinen Institutionen unserer demokratischen Gesellschaft. Wenn wir in die Vergangenheit blicken, gab es vielleicht noch die Kirche und das Militär, die gesellschaftsumspannend einflussreich waren. Beide haben zu Recht deutlich an Stärke eingebüßt. Aus meiner Perspektive tun wir also gut daran, an der öffentlichen Schule als bedeutende Institution festzuhalten, weil sie uns außerordentlich dabei unterstützen kann, unser friedliches und demokratisches Zusammenleben zu bewahren. Derzeit ist die öffentliche Schule nicht am Ende, aber neuerlich in einer Krise und wir sollten dringend gegensteuern.
Wenn wir aber in die Vergangenheit blicken, sehen wir in den letzten Jahrzehnten doch deutliche Verbesserungen: Beispielsweise der Frontalunterricht ist doch vielerorts modernen Lehr- und Lernmethoden gewichen.
Ja, in diesen Bereichen gab es spürbare Verbesserungen, die sehr wichtig sind. Die öffentliche Schule soll aber auch der öffentlichen Erwartungshaltung nach eine Vielzahl von Herausforderungen meistern, die von der Digitalisierung über kriegerische Auseinandersetzungen mit Flüchtlingsbewegungen bis hin zu ökonomischen und ökologischen Krisen reichen. Sie werden beinahe täglich an den Türen der öffentlichen Schule abgelegt. Das nennt sich in der Forschung die „Pädagogisierung sozialer Probleme“. Gleichzeitig steigt dadurch der Leistungsdruck für das gesamte System, sichtbar beispielsweise durch internationale Vergleichsstudien. Insgesamt entsteht dabei der Eindruck bei vielen, dass diese Institution nicht leistet, was wir von ihr erwarten.
Was ist die Folge?
Vermehrt entscheiden sich Eltern für eine Privatschule oder für den häuslichen Unterricht. Das betrifft momentan nur jene, die potent genug sind, es sich zu leisten oder das eigene Wissen einbringen zu können. Der Trend reicht aber, mittlerweile beunruhigend deutlich in Meinungsumfragen, bis in die Mittelschicht. Die öffentliche Schule als gesellschaftliche Institution, die wir (so gut wie) alle durchschreiten, verliert zusehends an Relevanz.
Warum tut sich das System Schule so schwer mit der Modernisierung?
Ich halte das für eine Fehleinschätzung, da Schule durchgehend Veränderungsprozessen ausgesetzt ist und gerade in den letzten Jahren haben massive Veränderungen stattgefunden. Man denke an diverse, große Reformen in relativ kurzen Abständen. Wir sehen beispielsweise deutliche Eingriffe in die verkürzte Ausbildung von Lehrer:innen und eine weitreichende Standardisierung auf der Ebene der Leistungsbeurteilung und bei Abschlussprüfungen. Eigentlich hätte man aber schon vorher aus der Forschungsperspektive heraus wissen können, dass gerade diese Veränderungen unbeabsichtigte negative Folgen entwickeln werden. Ich denke, das wird uns in den nächsten fünf bis zehn Jahren noch sehr stark beschäftigen.
Inwiefern?
Schon seit mindestens 60 Jahren stehen u.a. Bewertungspraktiken im Zentrum der Schulkritik. Das hat auch damit zu tun, dass viele ungewollte Faktoren in die Benotung einfließen, wie wir auch in zahlreichen Studien sehen. Wer beispielsweise attraktiver ist, hat höhere Chancen, auch bessere Noten zu bekommen. Solchen und ähnlichen Effekten wollte man mit einer Standardisierung von Bewertungspraktiken entgegenwirken. Die Prominenteste davon ist die standardisierte Matura. Bildungstheoretisch setzt das voraus, dass alle Schüler:innen an allen Schulstandorten aus der Fülle des Möglichen genau das Getestete unterrichtet bekommen haben, was am Ende gefordert wird. Das ist utopisch, führt zu einer großen Verunsicherung der Lehrpersonen und macht in der Konsequenz die Matura in dieser Form zum Glücksspiel.
Dennoch bestehen nun seit einigen Jahren Schüler:innen erfolgreich die Zentralmatura.
Ja, das tun sie glücklicherweise. Aber um welchen Preis? Die Lehrer:innen, die sich davor zwar an den Lehrplan zu richten hatten, aber in der konkreten Ausgestaltung ihres Unterrichts und der Prüfungsgestaltung frei waren, wissen nun selbst nicht genau, was bei der Matura geprüft wird. In den letzten Jahren hat sich bei ihnen dazu zwar ein Erfahrungsschatz aufgebaut, der aber zum teaching to the test geführt hat. Während vorher die professionell ausgebildete Lehrperson die professionelle Entscheidung traf, was sie konkret im Unterricht erarbeiten will und dann entsprechend angelehnte Prüfungen konzipierte, muss sie heute mit den Schüler:innen auf „wahrscheinliche“ Prüfungsfragen hinarbeiten. Lehrer:innen müssen also alles andere vernachlässigen, was vielleicht auch spannende Einsichten generiert hätte oder bei Lernenden zum Lernanlass geführt hätte. Insofern sehen wir aus meiner Warte eine massive Engführung und Leistungsorientierung, die entgegen den Erwartungen und Versprechungen jährlich immensen Stress vom Prüfling bis ins Ministerium verursacht und dabei zu keinen „verbesserten“ Leistungen geführt haben.
Dafür sind die Leistungen der Schüler:innen doch besser vergleichbar, oder?
Auch das ist in Frage zu stellen. Wir haben diese starke Zentrierung auf die Qualifizierung, auf dem Weg dorthin verlieren wir aber unglaublich viel was Schule auch sein kann und eigentlich am besten kann. Das nicht-standardisierte System bot eine entspanntere Lernumgebung, in der auch mehr Platz für die Kultivierungsdimension von Schule war. Heute belasten Mobbing und Gewalt die Schulen, wo man pädagogisch kaum Platz hat, damit umzugehen. Lehrer:innen berichten zusehends: „Um was soll ich mich noch alles kümmern?“ Früher konnten solche Dimensionen im Unterricht mitbehandelt werden. Das geht heute schwerlich. Die COVID-Lockdowns haben uns da auch einiges gelehrt: Mathematik, Deutsch, Englisch und Naturwissenschaften mussten mit Nachdruck nachgelernt werden, alles andere – Kunst oder Sport – schien einige Zeit irrelevant, weil nicht testrelevant. Die Folgen spüren wir bis heute.
Ist die Geschichte der Schule eigentlich linear oder gab es immer wieder Aufs und Abs in Form von Krisen?
Ich habe mich mit Krisen-Narrativen in Bezug auf Schule in den letzten 250 Jahren beschäftigt, und dabei den deutschsprachigen Raum mit den USA verglichen. Ich konnte dabei feststellen, dass diese wiederkehrenden Diskurse sehr ähnliche Argumentationsstrukturen aufweisen, nur die Themen ändern sich entsprechend der jeweilig vorherrschenden gesamtgesellschaftlichen Krisenwahrnehmung. Beispielsweise sind es technologische Innovationen, wie aktuell die Digitalisierung, die Schockwellen auslösen. Aber auch die Klimaveränderung schlägt sich auf die Schulen nieder. Oft sind es Ängste, Wünsche und Hoffnungen von Gesellschaften, die in einem Krisenmoment aufbrechen und die man dann im Bildungsdiskurs nachvollziehen kann. Meine Analysen zeigten eindeutig: Expert:innen müssen an der Diskussion lautstark teilhaben, um auch Veränderungen herbeizuführen.
Sie haben bereits ausgeführt, dass sich viele für den privaten Bildungssektor entscheiden. Wie ordnen Sie das gesellschaftlich ein?
Seit den 1990er Jahren erodiert in Österreich der Wohlfahrts- und Sozialstaat. Er geriet zunehmend in massive Finanzierungsprobleme, weswegen vor allem im Gesundheits-, Pensions-, Bildungs- und Sicherheitswesen Reformen durchgeführt wurden. Nicht verwunderlich also, dass gerade diese Bereiche Wahlkämpfe prägen. Aus neoliberaler Sicht ist man mittlerweile über Parteien hinweg froh, wenn Menschen sich privat krankenversichern und zu Privatschulen wechseln (was zuletzt besonders deutlich am Elementarbereich sichtbar wurde). Politische Ermunterungen und kritische Wahrnehmungen über die Leistungsfähigkeit öffentlicher Institutionen wie Schulen forcieren dies. Eine Erhebung aus dem Jahr 2019 hat für Deutschland festgestellt, dass sogar 45 Prozent der Eltern bereit wären, eine Privatschule zu bezahlen, wenn sie es könnten. Wenn sich das realisiert, bleibt für jene, die das nicht können, bloß die „Restschule“. Sie müssten mit dem Minimalangebot zufrieden sein, das die Kinder zukünftig allzu oft auch in prekäre Beschäftigungen führt. Derartige Ergebnisse der gegenwärtigen Krisen der öffentlichen Schule und damit verbundene Problem im demokratischen Zusammenleben sowie soziale Konsequenzen sind detailliert in meinem Buch „Schule am Ende?“ nachgezeichnet.
Zur Person
Bernhard Hemetsberger studierte Lehramt für die Fächer Geschichte, Psychologie & Philosophie an der Universität Wien. An der Universität Wien, wo er auch als Universitätsassistent tätig war, schloss er darüber hinaus im Jahr 2020 sein Studium der Bildungswissenschaft mit dem Doktorat ab. Von 2020 bis 2022 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München, danach war er Vertretungsprofessor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Historische Bildungsforschung an der Universität Münster. Seit September 2022 ist er als PostDoc-Assistent für Schulpädagogik und Historische Bildungsforschung am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft an der Universität Klagenfurt tätig.
Die Erkenntnisse aus seiner Dissertation fasste er in der 2023 erschienenen Publikation „#Schule am Ende? Kritik und Probleme öffentlicher Bildung“ in der Reihe „Kritische Reflexionen“ im Büchner-Verlag zusammen. Der Bildungswissenschafter Stefan Hopmann empfiehlt die Lektüre mit diesen Worten: „Gestützt auf eine breite Forschungsgrundlage beschreibt dieses Buch eindringlich, warum diese öffentliche Schule in Gefahr ist. Ausgerechnet diejenigen in Politik und Pädagogik, die versprechen ihre Zukunft zu sichern, könnten zum Totengräber werden. Bernhard Hemetsberger zeigt nicht nur auf, warum das so ist, sondern auch mögliche Auswege. Das Buch sollte auch deshalb Pflichtlektüre für alle Verantwortlichen in Bildungspolitik und Bildungsverwaltung werden.“