Wann entscheiden wir uns (endlich) für eine bessere Welt?
Die Welt scheint in Trümmern: Der Klimawandel wird in Umweltkatastrophen spürbar. Menschen in Not machen sich auf den Weg gen Norden, die Politik antwortet mit Nationalismus. Der Begriff „Gutmenschen“ ist negativ konnotiert, dabei bräuchte es „gut“ handelnde Menschen, die ihr Wirken in den Dienst einer besseren Welt stellen. Wir haben mit dem Kognitionsforscher Stephan Dickert und der Philosophin Alice Pechriggl darüber gesprochen, warum ein Sinneswandel so schwer umzusetzen ist.
Nehmen wir das Beispiel Klimawandel: Wir wissen rational, dass wir unser Konsumverhalten verändern müssen. Trotzdem entscheiden wir uns nicht für die dafür richtigen Handlungen. Welche Erklärung haben Sie dafür?
Stephan Dickert: Eine einzige oder eindeutige Antwort darauf habe ich leider nicht. Die Ursachen dafür sind sicherlich nicht monokausal. Vor allem denke ich, dass ein umweltfreundlicheres Verhalten im Sinne einer Incentive-Strategie belohnt werden müsste. Es ist derzeit viel zu leicht, noch mehr zu kaufen, noch mehr zu fliegen, noch mehr mit dem Auto zu fahren. Der Mensch braucht eine Entscheidungsstruktur, die es ihm leichter macht, im Sinne dieser Ziele „richtig“ zu handeln. Entsprechende Ansätze finden wir in der verhaltensökonomischen Idee des „Nudging“, das unsere Handlungen sanft in die richtige Richtung zu leiten versucht.
Alice Pechriggl: Ich würde bei meiner Erklärung beim Systemischen, beim Politischen ansetzen. Man muss sich da kein Blatt vor den Mund nehmen: Wir leben in einem verschwenderischen, kapitalistischen System, das uns beharrlich dazu verleitet, stets mehr zu wollen. Zum System gehört auch die Idee, dass sich der Einzelne für den gesamten ökonomischen Irrsinn verantwortlich fühlt, obwohl er oder sie diese Verantwortung gar nicht übernehmen kann. Das System baut auf Raubbau am Menschen und an den Ressourcen unserer Erde auf. Hinzu kommt natürlich die kulturelle Ebene, die sich global stark unterscheidet: Während man hierzulande schon sehr stark in der Verschwendungslogik drinnen ist, wird anderswo noch sorgsamer mit den Ressourcen umgegangen. Man vergleiche nur das täglich verbrauchte Verpackungsmaterial eines senegalesischen mit dem eines österreichischen Haushalts.
Das System ist menschengemacht. Welche menschlichen Treiber sind denn Ihrer Wahrnehmung nach dafür verantwortlich, dass wir dem Kapitalismus so willfährig dienen?
Pechriggl: Im Prinzip ist es das Spannungsverhältnis aus Lust und Unlust. Wir bräuchten eine Kultur im Umgang mit der Hybris, die in jedem Menschen steckt und die durch dieses System grenzenlos bedient wird. Dieser Hang zum Übermut war nicht nur den Griechen kulturell bewusst, und sie haben sich – genauso wie mit der Sterblichkeit – damit ernsthaft auseinandergesetzt.
Dickert: Ja, das Prinzip von pain und pleasure liegt dem zugrunde. Ich sehe aber auch klare Unterschiede, in welchem Maß man hier mitmacht und ob man die beiden Gegenpole – im Sinne von Lust und Unlust – nicht auch anders mit Hilfe von Belohnung bedienen könnte. Wenn Enthaltsamkeit entsprechend sozial belohnt werden würde, wäre sie vielleicht auch als lustvoll zu incentivieren. Im Grunde sind viele von uns Hedonisten.
Pechriggl: Was ja schön wäre, wenn es aufgrund der Potenzierung durch Hybris und System nicht so tragische Folgen hätte.
Dickert: Um aber realistisch zu bleiben, was erreichbar wäre: Meiner Einschätzung nach gäbe es, selbst wenn wir in einem perfekten System leben würden, das nur noch die „richtigen“ Entscheidungen forcieren würde, noch immer Leute, die nicht entsprechend handeln würden. Auf der psychologischen Ebene unterscheiden wir uns einfach durch die Treiber, die uns prägen. Ich stimme Ihnen, Frau Pechriggl, aber auch zu: Eine Abwälzung der Verantwortung auf Individuen ist schwierig und keine Lösung für unsere Probleme.
Pechriggl: Wenn alle plötzlich für ihr verschwenderisches, wenig soziales Verhalten schuldig gesprochen würden, machte dies noch unzufriedener und aggressiver. Der durch das System ständig angekurbelte Dauerkonsum wäre mit dieser Selbstgeißelung wohl kaum zu überwinden.
Ist die Lust an der Einschränkung etwas, das dem Menschen vielleicht in ähnlicher Weise innewohnend sein kann wie der Übermut?
Dickert: Für mich stellt sich dabei die Frage, wie dieser Wert symbolisch gerahmt, also geframed, wird. Wenn die Einschränkung als etwas Positives dargestellt wird, könnte es unter Umständen zu gewissen Handlungen motivieren. Allerdings halte ich das nicht immer für realisierbar.
Pechriggl: Einschränkung dürfte man das wohl nicht nennen, sondern eher Zurückhaltung. Das klingt nobler und hätte einen anderen sozialen Stellenwert. Ich glaube, dass es zum Über-die-Stränge-Schlagen gehört, sich danach mit einem gewissen Reuegefühl einzuschränken. Das ist ein komplexer Prozess, der hier abläuft.
Die Folgen unseres Handelns – sowohl ökologisch als auch ökonomisch – werden zunehmend leibhaftig spürbar. Wenn uns, beispielsweise in Europa, immer häufiger durch Überschwemmungen das Wasser bis zum Hals steht, kann das in uns vernünftigeres Verhalten auslösen?
Dickert: Ja und nein. Ich habe lange in den USA gelebt und dort gesehen, dass alle Evidenz zum Klimawandel jene Menschen, die ihr Verhalten nicht verändern wollen, nicht betrifft. Sie finden dann andere Erklärungen für die Vorgänge in der Natur. Dieses Verhalten ist natürlich auch in anderen Ländern zu beobachten. Andererseits wissen wir aus der Psychologie, dass mentale und reale Bilder vor unseren Augen stark handelnstreibend sind, insbesondere dann, wenn wir emotional involviert sind. Der globale Temperaturanstieg in Form einer Zahl berührt uns wesentlich weniger, als wenn wir selbst extreme Hitze oder Kälte spüren. Ich stelle dabei aber in Frage, wie langfristig wir unser Verhalten auf Basis solcher Erfahrungen ändern.
Pechriggl: Ich denke auch, dass sich viel verändert, wenn wir etwas am eigenen Leib spüren. Meist muss aber mehreres zusammenkommen: Intellekt, Vorstellung und das Affektive müssen gemeinsam angesprochen werden, um weitreichende Entscheidungen anzustoßen. Beispielsweise
war dies in Italien nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl der Fall. Wenn nicht alle Ebenen zusammenkommen und zu einem Urteil sowie einer angemessenen Handlungsweise führen, bleiben wir auf der Ebene des unbewussten Agierens. Dieses Agieren kann durchaus auch positiv und befreiend sein, für große Umwälzungen braucht es aber mehr, nämlich Entscheidungsprozesse, in die möglichst viele einbezogen sind, damit die Entscheidungen dann auch von möglichst vielen mitgetragen werden. Das wäre demokratisches Handeln zum Wohle des Demos und nicht des Kapitals oder der Technobürokratie.
Dickert: Ich darf hier auch das Beispiel der Flüchtlingswelle 2015 einbringen. Das Bild des toten Jungen am Strand hat Europa bewegt. Es hat das Gefühl ausgelöst, dass wir humanitär helfen müssten. Dieser Effekt hat nicht lange angehalten, sondern wurde von einer nächsten emotionalen Welle abgelöst, die das Mitgefühl in Angst übergehen ließ. Wir haben Studien zu dieser Zeit in Deutschland gemacht, die uns zum Beispiel die Auswirkungen der Übergriffe der Kölner Silvesternacht vor Augen geführt haben: Die Hilfsbereitschaft hat durch solche Ereignisse dann stark abgenommen. Die Ängste haben überhandgenommen und sind bis heute die Grundlage für die Wahlerfolge der AfD und anderer populistischer Parteien in Europa.
Wenn die Angst so ein starker Treiber ist, kann man sie dann nicht auch im positiven Sinne einsetzen? Beispielsweise wird ja mit Schockbildern auf Zigarettenschachteln gearbeitet, um Menschen vom Rauchen abzuhalten.
Dickert: Naja, da war es ja auch so, dass die Menschen als erstes eine Schachtel um die Schachtel herum gefertigt haben, um das negative Bild nicht mehr sehen zu müssen. Die Angst kann schon motivierend sein, die Forschung hat uns aber gezeigt, dass wir uns nicht lange schlecht fühlen. Das menschliche Emotionsregulierungssystem ist fantastisch: Es wird einen Weg finden, sich davor zu schützen, ohne große Handlungsänderungen einleiten zu müssen. Wenn man die Angst schürt, muss man auf alle Fälle gleich einen möglichst konkreten Lösungsweg dazu anbieten.
Pechriggl: Mit den drakonischen Folgen schüren wir schlechtes Gewissen. Außerdem halte ich diese Drohungen auch deshalb für unangemessen, weil sie so streng sind. Man hat das beispielsweise in der Suchtforschung gut belegt und umgesetzt. Diese Radikalität, wonach man als trockener Alkoholiker nie wieder einen Schluck trinken dürfe, erzeugt Leid bei den Menschen. Das Paradigma wurde dann verändert und man nimmt einen Rückfall nun lockerer.
Unsere kleinräumigen und individuellen Entscheidungen haben in einer globalisierten Welt Auswirkungen auf Menschen anderswo. Sind wir zu wenig fürsorglich und sozial, um das Schicksal von Menschen weit weg von uns zu berücksichtigen?
Pechriggl: Ich denke, dass die Empathie für fern von uns lebende Menschen wesentlich größer geworden ist. Dies hat mit der Globalisierung, mit den Reisen und den Medien zu tun. Die Empathie kann aber nicht mit dem mithalten, was auch an Verschwendung und antisozialem Verhalten durch die Digitalisierung potenziert wurde. Die Sorge um den einzigartigen Planeten Erde und die „Natur“, um die nächsten Generationen wächst zwar, aber, wie gesagt, das System ist verschlingend und die Lobbies sind es auch.
Dickert: Ich möchte hier eine Gedankenstudie von Peter Singer einbringen, der Szenarien wie dieses abgefragt hat: Stellen Sie sich vor, Sie sind wohlbekleidet auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch. Auf dem Weg dorthin sehen Sie, dass ein Kind in einem Brunnen zu ertrinken droht. Machen Sie Halt und helfen Sie dem Kind, obwohl Sie damit Ihr Outfit für das Bewerbungsgespräch ruinieren? Normalerweise geben Befragte an, dass sie dem Kind helfen wollen. Würde dieses Kind aber irgendwo in Afrika in den Brunnen fallen, wäre die Hilfsbereitschaft geringer. Was ich nicht klar vor meiner Nase habe, löst in mir nicht sofortigen Handlungsbedarf aus. Ich möchte auch den Effekt meines Handelns sehen, und der ist in vielem nicht klar. Ändert es etwas, wenn ich keine Plastikflaschen mehr kaufe? Der Gedanke, dass man, wenn man nicht sofort alle Probleme
lösen kann, lieber gleich gar nichts macht, liegt da nahe. Das Prinzip nennen wir in der Entscheidungsforschung zu prosozialem Verhalten „Pseudoineffektivität“.
Was machen Sie selbst, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen?
Pechriggl: Als Privatperson ist für mich klar: Ich habe um all diese Verschwendungsmechanismen nicht gebeten und ich bemühe mich, möglichst wenig daran teilzuhaben, und dies, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich in den Urlaub mit dem Auto fahre oder fliege. Natürlich kann man es immer besser machen, aber besser ist bekanntlich der Feind von gut. Als Philosophin schreibe ich zu solchen Fragen und bemühe mich, mit meinen Studierenden Diskussionen und Nachdenkprozesse anzustoßen. Unterrichten und die Begleitung von jungen Menschen auf ihrem Weg ist für mich schön und lustvoll, auch wenn es zuweilen anstrengt, inmitten eines geistlosen Quantifizierungswahns qualitätsvoll zu arbeiten.
Dickert: Zum einen versuche ich, durch meine Forschung zu den Treibern von Prosozialität einen Unterschied zu machen, obwohl mir natürlich klar ist, dass diese wissenschaftlichen Publikationen nur von einem Bruchteil der Bevölkerung gelesen werden. Aber ich ziehe sehr viel Zufriedenheit aus der Begleitung von Studierenden, die ja während des Studiums idealerweise einen wichtigen Reifeprozess durchleben und eine reflektierte, kritische Haltung einnehmen. Wenn ich sie in diesem Prozess unterstützen kann, habe ich schon das Gefühl, einen Beitrag geleistet zu haben.
für ad astra: Romy Müller
Zur Person
Alice Pechriggl ist seit 2003 Universitätsprofessorin am Institut für Philosophie. Sie war unter anderem Gastprofessorin an der Universität Paris I (Sorbonne), am interdisziplinären Gender-Kolleg für Doktoratsstudien an der Universität Wien und am Institut d’Etudes Européennes an der Université Paris VIII (St. Denis). Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind philosophische Anthropologie, insbesondere Geschlechteranthropologie, Philosophie der Politik und Handlungstheorie sowie Gruppen-/Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie. Ihre Schwerpunkte in der Geschichte der Philosophie sind griechische Antike und Gegenwartsphilosophie, insbesondere Französische Philosophie. 2018 von ihr erschienen ist: Agieren und Handeln. Studien zu einer philosophisch-psychoanalytischen Handlungstheorie. Bielefeld: transcript-Verlag.
Zur Person
Stephan Dickert ist seit 2018 Universitätsprofessor für Allgemeine Psychologie und Kognitionsforschung am Institut für Psychologie. An der University of Oregon absolvierte er 2003 den Masterabschluss und 2008 folgte der PhD in Psychologie. Bis zu seiner Berufung war er am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn, an der Linköping University in Schweden, am Institut für Marketing & Consumer Research an der WU Wien, und seit 2016 ist er Senior Lecturer (Associate Professor) in Marketing an der Queen Mary University of London. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der angewandten Kognitionspsychologie, Entscheidungsforschung, Wirtschaftspsychologie, Risikowahrnehmung und Konsumentenpsychologie.