Vom Jedermann zur Occupy-Bewegung: Figuren „wie Sie und ich“
Everybody, das sind Figuren, die von Filmen, Literatur, bildender Kunst, aber auch von der Politik, der Werbung und im Internet eingesetzt werden, um „alle“ anzusprechen. Was man häufig als „den gemeinen Mann“ bzw. „die gemeine Frau“, „den Mann von der Straße“ oder „das Mädchen von nebenan“ kennt, wird nun von Anna Schober, Professorin für Visuelle Kultur am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, untersucht. Sie bemüht sich dabei im Rahmen eines von der DFG geförderten Projekts um eine kulturhistorische Ikonographie der Figur des everybody.
„Institutionen des öffentlichen Lebens und einzelne Individuen wie Kunstschaffende verwenden solche Figuren, um ein Publikum anzusprechen und es in das Dargestellte zu involvieren. Zugleich ist dieses Publikum in der Moderne selbst auf ein Sich-Konfrontieren mit solchen diskursiven Doppelgängergestalten hin ausgerichtet“, erklärt Anna Schober. Ihr Forschungsprojekt untersucht, wie die Figur des everybody in visuellen Medien auftritt, die seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu kulturell dominanten Vermittlungskanälen gesellschaftlicher Diskurse geworden sind.
Die Figur des everybody kann historisch weit zurückverfolgt werden: So entstand in Holland um 1500 das Stück „Elckerlijc“, wenig später in England das Drama „Everyman“. Diese und zahlreiche ähnliche Werke, die daraufhin adaptiert wurden, handeln von einem „gewöhnlichen Mann“, der mit einem personifizierten Tod konfrontiert und dazu aufgefordert wird, eine Bilanz über das eigene Leben zu ziehen. Der Übergang zur Moderne hatte eine Verschiebung zur Folge, so Schober: „Der Andere ist nun in zunehmenden Maße nicht mehr der Tod bzw. Gott, sondern der, die oder das innerhalb der irdischen Welt angesiedelte Anonyme.“ Mit dem Aufkommen von demokratischen Republiken, wurden neue „Taktiken des Ansprechens von ‚allen‘ hervorgebracht“: „Neue politische Repräsentanten waren nicht mehr aufgrund von Tradition an der Spitze der Politik, sondern sie erreichten diese Position über die Teilnehme an einem Prozess, im Zuge dessen sie die Zu-Repräsentierenden, d.h. das sogenannte ‚Volk‘, überzeugen und zur Stimmabgabe verführen mussten.“
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts seien es, so Schober, häufig Figuren wie „der Arbeiter“ und „die Frau“, seit Ende der 1960er Jahre dagegen häufig auch migrantische oder gar nomandische Figuren, die die Funktionen des everybody einnehmen. Das Projekt von Anna Schober konzentriert sich auf zwei Zeitabschnitte: den Umbruch um 1968 und den oft mit dem Schlagwort „Ende des Wohlfahrtsstaates“ bezeichneten Einschnitt um 1990. Aktuelle Beispiele für everybodys sieht sie unter anderem in den Demonstrantinnen und Demonstranten der Occupy-Bewegung. „Diese treten hinter Guy-Fawkes-Masken versteckt als Mitglieder einer weltumspannenden Protestkultur auf“, so Schober.
Das Projekt verfolgt drei Ziele. Das erste Ziel besteht darin, eine Ikonographie der Figur des everybody seit etwa 1960 zu erstellen. Zweites Ziel ist es, die untersuchten Figurationen in einer längeren Überlieferungsgeschichte politischer Popularisierungsfiguren zu verorten, die mit dem Umbruch hin zu potenziell demokratischen politischen Systemen seit dem 18. Jahrhundert einsetzt. Drittes Ziel ist es, aktuelle philosophische Konzeptualisierungen des everybody als Denkfigur der Diagnostik der Gegenwart, wie sie in Zusammenhang mit den untersuchten Beispielen visueller Kultur auftreten, kritisch und vergleichend zu diskutieren.
Das Projekt wurde 2015 an der Universität Gießen gestartet. Anna Schober hat im Sommer 2016 als Professorin für Visuelle Kultur an die Alpen-Adria-Universität gewechselt und bringt ihr kulturhistorisches DFG-Projekt nun in den fachübergreifenden Forschungsschwerpunkt „Visuelle Kultur“ ein.