Ist eine Pflanze ein Lebewesen?
Kinder entwickeln in der Regel erst zwischen 9 und 11 Jahren ein Verständnis für diese Abstraktion und beantworten die Frage mit „Ja“. Gertraud Benke hat das dahinter stehende Konzeptlernen untersucht.
Die Forscherin am Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung hat in einem Projekt Kinder in der 3. und 4. Schulstufe gefragt, was denn eine Pflanze sei. Sie hatte dabei schon die Grundannahme aus der wissenschaftlichen Literatur, dass sich in dieser Entwicklungsphase die kindlichen, naiven Vorstellungen über Pflanzen hin zu einem abstrakteren, konzeptuellen Denken verändern. Während sie also bei Jüngeren zur Antwort bekam, dass Pflanzen rot, blau oder grün seien, nannten ältere Kinder schon Stängel und Blätter als Merkmale und noch Ältere gaben das Wachsen aus der Erde als zentrales Charakteristikum an. Erst wenn dieses Konzeptlernen eingesetzt hat, können Kinder Pflanzen auch als Lebewesen kategorisieren; davor sind in der Regel Tiere die prototypischen Lebewesen.
Für Benke ist beim Konzeptlernen vor allem das Einnehmen einer veränderten Position gegenüber den Dingen von Bedeutung. „Wenn man beispielsweise einen Stift visualisieren soll, stellt man sich, so die Perzeptionsforschung, den Stift so vor, wie er vor einem liegt und wie man ihn ergreifen würde. Kinder stellen sich die Erde meist so vor, wie sie auf ihr stehen und sich umschauen, also meist wie eine Ebene. Um ein ‚richtiges‘ Bild von der Erde zu erhalten, muss man sie aber aus dem Weltall betrachten. Man muss also den Standpunkt und die Perspektive verändern, um eine Kugel zu sehen“, so Benke. Die erlernten Konzepte prägen nachhaltig das Denken der Kinder. So hat Benke beispielsweise einen hegenden, pflegenden „Gärtner-Zugang“ zur Natur bei vielen interviewten SchülerInnen festgestellt: Auf die Frage, ob die Pflanzen die Menschen zum Überleben brauchen, haben viele Kinder festgestellt, dass es ohne den Menschen den Pflanzen schlecht ginge, da sie sonst einander überwuchern würden. Außerdem meinten sie unter Rückgriff auf den Gaskreislauf, dass die Pflanzen die Menschen brauchen, da sie sonst “keine schlechte Luft“ zu verarbeiten hätten.
Für die didaktischen Konzepte, nach denen Lehrkräfte unterrichten, haben diese Erkenntnisse große Bedeutung: In der Literatur geht man davon aus, dass es zwei Wege gibt, wie das Konzeptlernen abläuft. Einerseits können wir ganze Modelle im Kopf haben, die abgespeichert und als Gesamtes abgerufen werden. Andererseits können es Bausteine sein, die sich jedes Mal neu zusammensetzen. Gibt nun ein Kind „falsche“ Konzepte wieder, gilt es zu hinterfragen, ob ein gesamtes Modell falsch abgebildet ist oder ob einzelne Bausteine zu der irrtümlichen Annahme führen.
Gertraud Benke sieht noch umfassenden Forschungsbedarf bei dem Konzeptlernen in den Naturwissenschaften. Während es beispielsweise schon viele Arbeiten zu dem Themenfeld „Tiere“ gibt, ist die Forschung zum Verständnis von Pflanzen noch in den Kinderschuhen.
Gertraud Benke hat am 21. Mai 2015 an der Alpen-Adria-Universität ihren Habilitation zum Thema „Unterrichtsforschung“ erfolgreich abgeschlossen. Sie ist am Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung tätig und hat davor an der Stanford University School of Education in Palo Alto ein PhD-Studium absolviert.