Neue Erkenntnisse zur mittelalterlichen Gedächtniskunst
Vor der Massen-Verbreitung von Text und Bild kannte man variantenreiche Methoden der Gedächtniskunst, um bedeutsame Inhalte zu bewahren und zu verbreiten. Ein aktueller Band stellt neue Erkenntnisse zur so genannten „ars memorativa“ vor.
Das, was heute geschieht, woran geglaubt wird und an welche Regeln man sich zu halten hat, wird umfassend aufgezeichnet: Bild, Text und Film sind allgegenwärtig und stehen annähernd jedem und jeder zur Verfügung. Im Mittelalter hingegen, als sich erst die Verschriftlichung verbreitete, war es für die Kulturen eine große Herausforderung, (religiöse) Geschichten sowie ethische und rechtliche Inhalte – individuell und kollektiv – zu bewahren und zu vermitteln. Diesem Zweck diente die so genannte „ars memorativa“, die Gedächtniskunst, die im 14. und 15. Jahrhundert zu einer der bemerkenswertesten Erscheinungen der spätmittelalterlichen Zivilisation wurde.
Am Institut für Germanistik beschäftigt sich insbesondere Sabine Seelbach umfassend mit dieser Gedächtniskunst. Sie hat nun gemeinsam mit Rafał Wójcik (Universität Poznan) ein Sonderheft der Zeitschrift „Daphnis“ herausgegeben, das jüngste Forschungsergebnisse vorstellt.
„Man kannte ein breites Spektrum an Variationen mnemotechnischer Methoden, also Verfahren, wie man damals bedeutsame Inhalte erinnerte und weitergab“, erklärt Sabine Seelbach. Solche wichtigen kulturellen Zeugnisse waren beispielsweise die Bibel, historische Literatur aber auch juristisches Regelwerk. Seelbach führt dazu weiter aus: „Die Methoden dienten als Werkzeug ethischer und Glaubensunterweisung in unterschiedlichsten Bildungskontexten vom individuellen Studium über klösterliche und universitäre Lehrsituationen bis hin zur Predigt.“
Seelbachs Beitrag in der Ausgabe ist der raumzeitlichen und textgeschichtlichen Zuordnung eines bislang so gut wie unbekannten italienischen Traktats gewidmet, dessen bislang einziger Überlieferungszeuge die Handschrift Ms. 3368 der Bibliothèque Sainte-Geneviève in Paris ist. Es wird angenommen, dass Venedig als Entstehungsort und das Jahr 1454 als Entstehungsjahr sehr wahrscheinlich sind. „Der italienische Text entwirft einen Gedächtnisraum stadtstaatlicher Prägung, in dem auch die universitären Strukturen der klassischen Latinität ihren Ort haben“, so Seelbach. Sie vergleicht diesen Text mit einem auf einen ähnlichen Pool von Gedächtnishilfen zurückgehenden lateinischen Text und kommt dabei zu interessanten Erkenntnissen, unter anderem führt sie dazu aus: „Die Markierung der Kommunikationssituation zeigen Sprecher und Hörer auf Augenhöhe, an Dichte und Kohärenz erweist sich der volkssprachige Text sogar elaborierter und anspruchsvoller als der lateinische. Mithin bestätigte sich die noch immer auch kritisch diskutierte Forschungsthese, dass die Volkssprache in Texten des 15. Jahrhunderts keineswegs zwingend in einer untergeordneten Position gegenüber der Gelehrtensprache zu sehen sei, dass sie diese vielmehr auch als Wissenschaftssprache einzuholen und nicht selten auch zu überflügeln vermochte.“
Die Ausgabe beinhaltet insgesamt acht Beiträge und drei Rezensionen zur „ars memorativa“.
Wójcik, R. & Seelbach, S. (2014). Ars Memorativa in Central Europe. Daphnis, Bd. 41, No 2.
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