Gemeinsam statt einsam lesen
Das Lesen in Stille und Kontemplation entwickelt sich wieder zu einem sozialen, kommunikativen Miteinander im digitalen und realen Raum. Eine Gruppe von GermanistInnen untersucht nun die Kommunikation in nicht-professionellen Offline-Lesegruppen.
„Was dem 18. Jahrhundert der literarische Salon und dem 19. Jahrhundert das Lesekabinett war, sind heute Leseforen im Internet (Stichwort: Social Reading) und die meist privat organisierten Lese- und Buchgruppen, von denen es auch in Kärnten einige gibt“, erklärt die Germanistin Doris Moser (Institut für Germanistik). Sie untersucht gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen die Kommunikation in Kärntner Lesegruppen und Lesenetzwerken, konkret in zwei Lesegruppen in Viktring und in Hermagor.
Die GermanistInnen interessieren sich dabei unter anderem dafür, wie nicht-professionelle LeserInnen literarischer Texte über das Gelesene kommunizieren. Außerdem fragen sie sich, wie Werturteile über Literatur in Lesegruppen zustande kommen und welche zusätzlichen sozialen und kulturellen Funktionen die regelmäßigen Treffen für LeserInnen erfüllen.
Erste Ergebnisse zeigen nun, dass unabhängig von verschiedenen Organisationsformen und Teilnehmerstrukturen vor allem das Bemühen um Textverständnis eine große Rolle spielt, wie Moser erklärt: „Zu sehen, wie andere mit schwierigen Texten umgehen und wie Bedeutungszuschreibungen erfolgen, das wird von den meisten als wichtigste Funktion der Gruppentreffen angesehen.“ Dabei nehmen die TeilnehmerInnennnen eine breite Palette von Rollen ein und folgen verschiedenen Kommunikationsmustern. Besonders wichtig sind Informationsaustausch und Verständnisabgleich, also die Suche nach einer gemeinsamen, verbindlichen Lesart. Moser dazu: „Die Einstellung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu den rezipierten Büchern ist respektvoll und wertschätzend. Das Buch als Medium wird eben grundsätzlich für wertvoll, das Bücherlesen als ein unverzichtbarer Teil des Lebens angesehen. Das bedeutet aber nicht, dass alles Gelesene gelobt wird! Man beklagt und beschwert sich auch oder kann pessimistischen Texten nicht immer etwas abgewinnen. Aber man bemüht sich und stützt einander im Umgang speziell mit den komplexeren Texten.“ Gegenüber der professionellen Literaturkritik nehmen die Lesegruppen ein ambivalentes Verhältnis ein. Die Attitüde manch eines „Kritikerpapsts“ („hält sich für einen Herrgott“) wird vehement abgelehnt, trotzdem zieht man Rezensionen und Buchempfehlungen zu Rate. Ähnlich gespalten fällt der Umgang mit Unterhaltungsliteratur aus, wie mehrere Interviews zeigen („hat mir auch gut gefallen, aber es ist halt keine hohe Literatur“). Von großem Einfluss auf die Bewertung eines Textes sind Affekte aus dem Leseprozess wie das Erleben von Langeweile, Spannung oder Beunruhigung. Das führt nicht selten auch zu emotional geführten Diskussionen. Kontroverse Debatten werden aber grundsätzlich nicht als negativ empfunden, im Gegenteil: ein gepflegtes Streitgespräch erleben viele TeilnehmerInnen von Lesegruppen als produktiv und unterhaltsam. Gemeinsam statt einsam lesen bedeutet für die TeilnehmerInnen der Lesegruppen insgesamt einen Gewinn an Leseerfahrung, Literaturwissen und Unterhaltung gleichermaßen.
Die Forschungsgruppe ist weiter auf der Suche nach Lesegruppen, die bereit sind, den GermanistInnen von ihren Erfahrungen zu berichten. Interessierte sind eingeladen, sich per Mail (doris [dot] moser [at] aau [dot] at) zu melden.