Umwelt im Wandel: „Wir müssen lernen, Unsicherheiten auszuhalten.“
Die Geographin Kirsten von Elverfeldt plädiert dafür, im wissenschaftlichen Umgang mit der Umwelt und ihrem Wandel Unsicherheiten stärker mitzudenken. Sie nimmt Naturphänomene mit dem Konzept der so genannten selbstorganisierenden Systeme in den Blick, deren langfristige Entwicklung schwierig bzw. gar nicht vorhergesagt werden kann. Im Interview mit ad astra erläutert sie, was diese Systeme ausmacht und warum es sich lohnt, Unsicherheiten auszuhalten.
In der Forschung zu Umwelt- und Klimawandel fällt meist das „Ursache-Wirkung-Prinzip“ auf. Ihnen geht es darum, diese Zusammenhänge zu hinterfragen beziehungsweise eine zusätzliche Dimension einzuführen. Warum?
Ich gehe davon aus, dass es nicht immer so ist, dass äußere Faktoren zu einer Veränderung in einem System führen, sondern dass auch das System selber Veränderung produzieren kann. Im klassischen Ursache-Wirkungs-Denken hingegen wirkt beispielsweise der Klimawandel von außen insofern auf einen Fluss wie die Donau, dass es durch vermehrte starke Niederschläge zu vermehrten Überschwemmungsereignissen kommt. Wir nehmen also an, dass, wenn sich das eine ändert, sich auch das andere in bestimmter Weise verändert. Dieses Aufeinander-Beziehen funktioniert in der Wissenschaft sehr oft, aber eben nicht immer. Mein Fokus liegt auf den Fällen, wo dies nicht klappt.
Können Sie Beispiele dafür nennen?
Beispiele finden wir vor allem in Form kleinerer Phänomene: Steinringe im Permafrost, also im dauerhaft gefrorenen Boden, zeigen ein Muster, und dieses entsteht nicht aufgrund von äußeren Einflüssen, sondern es produziert sich sozusagen von selbst. Oder die Strandhörner, also die Bögen, die sich im Sand an einem Strand bilden: Es gibt die These, dass diese Bögen selbstorganisiert entstehen, also nicht durch die Struktur des Strandes, des Wellengangs oder andere äußere Einflüsse vorgegeben sind. Solche Phänomene faszinieren mich.
Wie würden Sie anhand dessen Selbstorganisation erklären?
Die Ausgangsbasis sind letztlich Zufälle, beispielsweise Unebenheiten am Meeresboden. Diese führen dazu, dass an manchen Stellen, die etwas tiefer liegen, eher Material abgetragen wird, indem das Wasser dort schneller fließen kann. Andernorts gibt es Stellen, die etwas höher gelegen sind, dort fließt das Wasser langsamer, und es kommt eher zu Ablagerungen. So bilden sich kleine „Täler“ und „Berge“, die wachsen, indem das Wasser eben schneller oder langsamer fließt und Partikel so verlagert werden. Der Prozess verstärkt sich selbst, bis er zu einem bestimmten Schwellenwert kommt, wo ein negatives Feedback einsetzt und den Vorgang stoppt. Es sind also zufallsverteilte Unebenheiten im Untergrund, die in einem selbstverstärkenden Prozess zu der Form von Strandhörnern führen.
Gibt es auch großflächigere Naturphänomene, die sich mit dem Konzept der Selbstorganisation beschreiben lassen?
Ja, es gibt einige mittelgroße Systeme. Ein Beispiel, das ich faszinierend finde, sind Flussdeltas: In dem Moment, in dem der Fluss an das Meer oder einen großen See gelangt, nimmt durch den Widerstand des Wassers die Fließgeschwindigkeit ab. Dann kommt es zur Ablagerung von Material, also der Sedimentation, zuerst der gröberen Partikel und dann der immer feineren Teilchen. Der Prozess setzt sich fort, und es ergeben sich Unebenheiten, wo sich dann die einzelnen Arme des Deltas herausbilden, deren Entwicklung denselben Prinzipien folgt. Hie und da verstopft dann ein Arm, und das Wasser sucht sich einen anderen Weg. Der Prozess funktioniert von alleine. Bis zu einem gewissen Grad haben äußere Faktoren keinen Einfluss. Erst wenn sich in den Rahmenbedingungen gravierend etwas ändert, beispielsweise durch einen Anstieg des Meeresspiegels oder wenn im Flussverlauf ein Damm gebaut wird, gibt es auch Wirkungen auf die Deltaentwicklung.
Sind solche Systeme hinreichend erforscht?
Zu vielen Phänomenen gibt es wenig Literatur; mehr Forschungsarbeiten gibt es beispielsweise zu den Salzmarschen, die vielfach auch als selbstorganisierende Systeme verstanden werden und zu denen auch Literatur auf dieses Konzept hinweist.
Ist alles, was eine Struktur bildet, selbstorganisiert?
Nein, nicht jede Struktur ist selbstorganisiert. Es geht um den internen Prozess eines Systems, das sich als „Selbst“ begreifen lässt. Die Prozesse geschehen lokal, ohne äußere Einflüsse.
Der Mensch beobachtet die Natur häufig mit dem Bedürfnis, die Ordnung hinter den Strukturen zu erkennen, um auf zukünftige Entwicklungen schließen zu können. Ist dies bei selbstorganisierenden Systemen möglich?
Man kann kurzfristige Entwicklungen voraussagen, langfristig aber nicht. Selbstorganisierende Systeme sind nichtlinear. Wenn ich große Systeme in den Blick nehme, und diese müssen nicht mal sonderlich komplex sein, habe ich sehr viele Parameter, die aufeinander einwirken: Überall passiert irgendwas, dies auch häufig gleichzeitig. Während wir also an der einen Stelle messen und beobachten, geschieht an anderer Stelle auch etwas. Systeme streben bestimmten Zuständen, so genannten Attraktoren, zu, die wir auch nicht zur Genüge kennen. Die Wissenschaft kommt hier sehr schnell an ihre Grenzen. Es kommt zu Ereignissen, mit denen man nicht gerechnet hat. Und das ist auch besonders wichtig für mich: Von der Wissenschaft wird Sicherheit erwartet, und meine Arbeit weist genau in die andere Richtung, nämlich in Richtung Unsicherheit bei den Prognosen.
Wenn wir schon bei kleinen Systemen wie Sandhörnern unsicher sind, wie sie sich entwickeln: Wie können wir dann mit Blick auf das große Ganze, was uns auf Erden umgibt, Voraussagen über die weitere Entwicklung treffen? Wissen wir eigentlich gar nicht, wie sich die Umwelt weiter verändern wird?
Wir haben natürlich Hinweise. Zum Glück haben wir die Möglichkeit, vergangene Klimate zu untersuchen und daraus Rückschlüsse zu treffen. Aber auch hier gibt es Unsicherheitsfaktoren: Wir können nur das sehen, was uns in Form von Zeitzeugnissen aus der Vergangenheit zur Verfügung steht. Und wir haben Modelle, mit denen wir rechnen können, die aber auch Unsicherheiten in sich tragen. Ich denke, wir wissen sehr viel, aber ganz persönlich glaube ich auch, dass wir nie alles wissen können. Was aber auch ein Garant dafür ist, dass die Wissenschaft immer Stoff hat, woran sie arbeiten kann.
Mit dem Umweltwandel und den Konsequenzen für den Menschen geht auch häufig die Forderung nach Maßnahmen durch Menschenhand einher, die entgegenwirken.
Das Bedürfnis der Gesellschaft, die Umwelt zu steuern, ist hoch. Von geregelten Abflussspitzen großer Flüsse bis hin zu durch „Wolkenimpfungen“ regulierten Niederschlägen erscheint alles möglich. Ich möchte diese Machbarkeitsidee in Frage stellen: Lassen sich natürliche Systeme, die sich allein schon aufgrund ihrer Kompliziertheit einem vollständigen Verständnis verschließen, überhaupt dauerhaft steuern? Wenn diese Systeme komplex sind und nicht linear auf Einflussnahmen reagieren, kann ein und derselbe Steuerungsversuch zu verschiedenen Zeitpunkten völlig verschiedene Wirkungen haben. Die Folgen solcher Einflussnahmen sind also kaum vorhersehbar.
Kann man das Konzept der Selbstorganisation auch dafür anwenden, die Erde in ihrer Gesamtheit zu verstehen?
Das ist noch nicht wirklich durchdacht. Ich persönlich könnte mir vorstellen, dass das Gesamtsystem Erde als selbstorganisiert zu denken ist. Wir finden hier sehr viele Strukturen, die wir nicht durch externe Faktoren erklären können, was ein Hinweis darauf sein könnte.
Was würde das für die Geographie als Erdsystemforschung bedeuten?
Die Wissenschaft fragt immer nach dem Warum. Dieses Suchen nach Ursache und Wirkung bröckelt derzeit wieder ein bisschen weg. Das tut es nicht zum ersten Mal, so wurde das Prinzip der Kausalität schon von Bertrand Russell vor hundert Jahren verabschiedet. Mir ist es wichtig, mit der Selbstorganisation einerseits auf die Unsicherheiten hinzuweisen und andererseits eine Veränderung des Blickes anzustoßen. Letzteres bedeutet für die Geomorphologie, also die Landformenkunde, weniger auf das Drumherum zu schauen, sondern das System selber in den Blick zu nehmen. Das war bisher wenig im Fokus: Welche Prozesse laufen ab, wie spielen sie zusammen, welche Informationen trägt das System in sich und wie verarbeitet es diese? Am Beispiel der Gletscher lässt sich aufzeigen, dass sie langsam auf Klimaveränderungen reagieren. Fünf warme Jahre werden vielleicht erst 15 Jahre später an der Gletschermündung messbar, oder eben auch nie. Bei den Blockgletschern, die ein Permafrostphänomen darstellen, kann das hunderte und tausende Jahre dauern. Da lohnt sich ein Blick auf das Innere des Systems besonders.
Wenn es um unser persönliches Lebensumfeld Erde und damit auch ums Überleben in einer sich verändernden Umwelt geht, ist Unsicherheit schwer zu ertragen. Wie kann die Wissenschaft damit umgehen?
Wenn Katastrophen passieren, helfen Erklärungen dem Menschen dabei, sie zu verarbeiten. Die Wissenschaft muss aber offen mit Unsicherheiten umgehen. Sie darf keine falschen Hoffnungen schüren. Wir wissen sehr viel nicht, und wir können uns nur an dem orientieren, welche Theorien die Plausibelsten sind. Nur wenn man diese Theorien als Wahrheiten verkaufen will, sehe ich ein Problem. Ein Beispiel dafür sind die Theorien zum anthropogenen oder natürlichen Klimawandel, die als Gegenpole verhandelt werden. Das Thema ist sehr öffentlichkeitswirksam, daher müssen viele mit starken Positionen, vor allem außerhalb der Scientific Communities, arbeiten. Es scheint oft so, dass es zwischen den beiden Polen so etwas wie „Religionskriege“ in der Wissenschaft gibt. Der Unterschied zwischen Religion und Wissenschaft ist aber, dass die Religion die eine Wahrheit verspricht und die Wissenschaft nach der Wahrheit sucht, indem sie Theorien aufstellt, die es zu diskutieren gilt.
Sie plädieren also für das Aushalten von Unsicherheit?
Ja, und zwar auf allen Ebenen: In der Wissenschaft, in der Gesellschaft, in der Politik. In allen Bereichen, nicht nur in der Umwelt- und Klimafrage. In anderen Wissenschaftsfeldern, die weniger öffentlichkeitswirksam sind, funktioniert das auch sehr gut, beispielsweise in der Astronomie, wo vieles, bis hin zur Relativitätstheorie, derzeit in Frage gestellt wird.
Hilft Ihnen das Konzept der Selbstorganisation dabei, Unsicherheit zu denken?
Mir hilft es, anderen gefällt das Konzept aus demselben Grund nicht. Ich finde Wissenschaft dort spannend, wo man noch nichts weiß. Heute wissen wir nicht, wie sich selbstorganisierende Systeme langfristig entwickeln, vielleicht wissen wir aber in 20 Jahren mehr darüber.
für ad astra: Romy Müller
Zur Person
Kirsten von Elverfeldt ist Postdoc-Assistentin am Institut für Geographie und Regionalforschung.
Sie studierte Geographie, Meteorologie und Bodenkunde in Bonn und Cork und war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholieke Universiteit Leuven in Belgien, an der Universität Bonn und an der Universität Wien. Sie promovierte zum Thema „Systemtheorie in der Geomorphologie. Problemfelder, erkenntnistheoretische Konsequenzen und praktische Implikationen“ und wurde dafür unter anderem mit dem Dissertationspreis des Deutschen Arbeitskreises für Geomorphologie ausgezeichnet.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftstheorie, Theoretische Geomorphologie, Systemtheorie(n), Naturgefahren, Naturwissenschaftliche Risikoforschung und Alpine Geomorphologie. Aktuell erschien ihre Publikation „Self-organising change? On drivers, causes, and global environmental change“ gemeinsam mit Christine Embleton-Hamann und Olav Slaymaker in der Fachzeitschrift „Geomorphology“ (Elsevier).