Streiten lernen auf europäisch
Europas Geschichte ist umstritten, schmerzhaft und problematisch. Dieses Erbe, auch „contentious heritage“, beeinflusst bis heute unser Zusammenleben. Der Kulturanthropologe Klaus Schönberger bemüht sich um die Öffnung der Konflikte mittels neuer Diskussionsräume.
„Konflikte sind normal, und sie sind Ausgangspunkt von unserer Vorstellung einer europäischen Idee“, erklärt Klaus Schönberger, Professor am Institut für Kulturanalyse. In Europa existieren an vielen Orten und auf verschiedenen Ebenen Konflikte mit politischer Relevanz: In Kärnten ringt man wie in vielen anderen Grenzregionen immer wieder um die Bedingungen des Zusammenlebens zwischen (deutschsprachiger) Mehrheit und (slowenischsprachiger) Minderheit, Regionen wie das Baskenland, Südtirol oder Flandern möchten sich von ihren Staaten loslösen, und in Nordirland wurde unter dem Deckmantel der Religion der Konflikt über territoriale Zugehörigkeit ausgefochten. Schönberger hat in den vergangenen drei Jahren gemeinsam mit elf PartnerInnen aus zehn Ländern Europas im EU-H2020-Projekt „TRACES“ über die Produktivität dieser Konflikte geforscht: „Wir behaupten, dass alle diese Auseinandersetzungen in diese europäische Idee hineingehören. Wir haben uns also auf die Suche nach Methoden gemacht, wie wir diese Konflikte produktiv machen können für so etwas wie eine neue europäische Imagination.“
Damit will man sich bewusst von der vielerorts beschworenen einen „europäischen Identität“ abgrenzen, denn, so Schönberger weiter: „Europa wird ein Europa der Vielen oder es wird nicht sein.“ Diese Vielen müssten gemeinsam an einem europäischen Bild mitimaginieren können, ohne den unerfüllbaren und unrealistischen Anspruch einer gemeinsamen Identität anzustreben.
Wie können diese Methoden nun aussehen? „Wichtig bei diesen Verfahren der Aushandlung ist es, dass die Widersprüche und Konflikte bestehen bleiben dürfen, aber die Positionen der Gegenüber als Position anerkannt werden“, erklärt Klaus Schönberger. Er sieht die Konsensgespräche für ein zweisprachiges Kärnten als ein mögliches Beispiel: „Die Widersprüche sind bestehen geblieben, aber sie sind eingehegt in einen politischen Prozess, der das Freund-Feind- Denken abzulösen beginnt. Wichtig ist aber auch, dass auf diese Weise nicht die unterschiedlichen Interessen gegenstandslos werden.“
Die Gestaltung der Diskussions- und Begegnungsräume wird im Projekt in den Ländern mit ihren jeweiligen Konflikten ganz unterschiedlich ausgelegt. Ihnen ist gemeinsam, dass Kunstschaffende und WissenschaftlerInnen – meist in Form von so genannten „creative co-productions“ – zusammenarbeiten. Der ethnografische Forscher Schönberger ging dabei neugierig an die künstlerischen Kooperationspartner heran: „Ich wollte wissen: Was weiß die Kunst, was ich nicht weiß? Der Unterschied zwischen Kunst und Ethnografie liegt für mich darin, dass die einen verunklaren und die anderen mittels wissenschaftlichem Vorgehen aufklären. Das Verunklaren sehen wir als Chance, weil es andere Assoziationsräume ermöglicht. Wir suchen also nach Wegen, wie das Verunklaren zu neuen Erkenntnissen verhilft.“ Kunst läge immer auch eine gewisse Offenheit inne, die wiederum viele Interpretationsmöglichkeiten aufmache. Starre Interpretationsmuster, die vielen gesellschaftlichen Konflikten zugrunde liegen, können so zersetzt werden. Eine weitere Chance erwachse auch dadurch, dass man paradoxerweise über Ungenauigkeit genauer werden könne.
Das Projekt ist mittlerweile abgeschlossen. Nun liegt es bei Klaus Schönberger, die Erfahrungen aus den einzelnen Projekten in einem Kompendium zusammenzustellen. Dabei geht es auch um die Reflexion der verschiedenen Betriebslogiken von Wissenschaft und Kunst sowie um die europäische Dimension des Lokalen. Die Effekte sollen – im Gegensatz zu häufig eilig beauftragten kurzfristigen künstlerischen Interventionen in Konfliktfällen – nachhaltig sein: Sowohl auf der Ebene des Konflikts in Form eines langanhaltenden Einsatzes der neugewonnenen Sprach-Räume als auch auf der Metaebene. Der hehre Anspruch: „Wir wollen beitragen zu einer europäischen Form der Konfliktaustragung von Interessensgegensätzen ohne gewaltförmige Ausbrüche. Für uns bedeutet das eine Repolitisierung des Konflikts. Identitätspolitiken implizieren Mord- und Totschlag.“
In diesem Jahr erscheint noch im Klagenfurter Wieser-Verlag das Opus Magnum des Projekts, herausgegeben von Marion Hamm und Klaus Schönberger, unter dem Titel „Contentious Heritages and the Arts: A critical Companion“.
für ad astra: Romy Müller