Bücherregal | Foto: Friedberg/Fotolia.com

„Schreiben sehen“: Musil-Institut bietet Einblick in die Entstehung literarischer Texte

Ein literarischer Text ist nicht einfach ‚da‘, als Buch. Er wird geschrieben, entsteht meist über Jahre. Doch wie? Diese Frage stellen sich immer mehr Leser*innen. Dazu präsentiert das Klagenfurter Robert-Musil-Institut für Literaturforschung am 9. Jänner 2020 (19:30 Uhr | Musil-Institut Klagenfurt) eine Hybrid-Publikation: den Band „Textgenese in der digitalen Edition“ und seine digitale Komponente. Wir haben mit Anke Bosse und Walter Fanta vorab darüber gesprochen, wie man die Entstehung literarischer Texte an Laien vermitteln kann.

Was sollte Ihrer Meinung nach das Ziel der Editionswissenschaften sein?

Walter Fanta: Wir nehmen uns die editorische Darstellung des Schreibens, und nicht der Schrift, vor. Das ist ein wesentlicher Unterschied.

Wie lässt sich das für Nicht-Germanist*innen erläutern?

Fanta: Wir sehen den Text als ein Fluidum. Er ist nicht fertig, sondern verändert sich ständig. Zuerst schreibt ein*e Autor*in einen Text, und kaum ist er veröffentlicht, mischen sich die Leser*innen ein und verändern ihn durch ihre Lektüren. Diesen dynamischen Prozess wollen wir ins Zentrum unserer editorischen Arbeit rücken.

Historisch-kritische Editionen sind aber eher etwas für das wissenschaftliche Fachpublikum, oder?

Anke Bosse: Diese bisher geltende Festlegung wollen wir aufbrechen. Wir wollen uns mit unserer Arbeit im Sinne der Third Mission auch an ein Publikum richten, das sich nicht wissenschaftlich mit Texten beschäftigt. Historisch-kritische Editionen waren bisher sehr aufwändig produzierte, vielbändige und entsprechend teure Werke, die eigentlich nur in wenigen Bibliotheken ausgestellt waren, aber kaum den Weg in die privaten Räumlichkeiten der Leser*innen gefunden haben. Wir versuchen einen Bruch mit dieser Tradition, indem Texte sowohl zwischen Buchdeckeln als auch im digitalen Raum zur Verfügung stehen.

Warum ist das für Sie lohnend?

Bosse: Das Internet ermöglicht es uns, die dritte Dimension der Literatur darzustellen. Wenn wir Editionen machen, versuchen wir ja, alle Textvarianten nebeneinander zu stellen und aufeinander zu beziehen. Dies gelingt virtuell viel besser. Außerdem können wir viel mehr Abbildungen, auch in Farbe, anbieten, als dies in Buchform möglich wäre. Wir bemühen uns um eine sinnvolle Kombination zwischen Print- und digitalem Produkt. Ein solches Hybridwerk ist uns auch mit dem vorliegenden Band gelungen.

Wie darf man sich das konkret vorstellen?

Fanta: Wir bieten in dem Buch „Textgenese in der digitalen Edition“ die Beiträge der Tagung zum Lesen an. Dazu – mit entsprechenden Links – gibt es ein Online-Portal, das Abbildungen zu den einzelnen Beiträgen bereitstellt. Die Leser*innen sollen gleichzeitig in den Genuss beider Formate kommen.

Ist man in den Editionswissenschaften schon aufgeschlossen gegenüber dieser Arbeitsweise?

Fanta: Viele jüngere Kolleg*innen haben selbst Websites zu Ihren Projekten, wo sie in ähnlicher Weise Materialien anbieten. Für sie war das kein Problem. Bei der Arbeit an dieser Publikation sind wir aber zwischenzeitlich auch auf so manchen Widerstand gestoßen, weil die Einbindung des Digitalen noch nicht bei allen gleichermaßen positiv gesehen wird.

Bosse: Die Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition ist die Herausgeberin dieser Reihe bei De Gruyter, der ein sehr renommierter Verlag ist. Sowohl die Reihe als auch der Verlag haben Rahmenvorgaben, an die man sich als Herausgeberin halten muss. Uns ist es gelungen, alle Player von dem Pionierprojekt zu überzeugen.

Sie wollen letztlich ja auch das Laienpublikum für die Hybrid-Edition begeistern. Wie kann das gelingen?

Bosse: Das Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv hat seit jeher einen klaren Auftrag, der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit einen Einblick in die literaturwissenschaftliche Forschung zu ermöglichen. Man kann also sagen: Wir stellen uns schon sehr lange die Frage der usability, also: Wie bringe ich Forschung an ein Publikum? Wir wollen bei der geplanten Buchpräsentation auch sehen, wie das Publikum auf das Dargebotene reagiert. Letztlich geht es darum, dass viele tolle Dinge im Internet nicht gefunden werden, weil die Menschen einen passenden Einstieg brauchen. Diesen wollen wir ihnen mit der Veranstaltung bieten.

Fanta: Wir beobachten bei Leser*innen den Wunsch, den Autor*innen beim Schreiben über die Schultern zu schauen, und den Germanist*innen beim Edieren. Viele fragen sich: Wie ist der Autor auf das Thema gekommen? Warum hat die Autorin das so geschrieben? Viele Leser*innen haben ein Interesse an den Hintergründen der Entstehung, das wir mit diesen Hybrid-Editionen bedienen können. Außerdem gewinnen wir zusätzliches Lesepublikum: Diejenigen, die gerne ein gedrucktes Buch in den Händen halten, werden gleichermaßen bedient wie diejenigen, die gerne online surfen.

Sind Ihre Erkenntnisse auch für andere Disziplinen nutzbar?

Fanta: Ja, die Visualisierung von Forschungsdaten ist für viele Disziplinen herausfordernd. Unsere Erkenntnisse können vielen anderen, seien es andere Philologien, die Geschichtswissenschaft, aber auch die Ökonomie und die Technik, nützlich sein. Wir arbeiten derzeit daran, ein Kompetenzzentrum für die museale Inszenierung von Forschungsergebnissen aufzubauen.

Bosse: Jedes Medium hat seine Qualität, und wenn es darum geht, Forschung transparent sichtbar zu machen, sollten wir möglichst viele Medien nutzen. So manches ist im Austausch mit einem menschlichen Gegenüber leichter zu vermitteln als über Printprodukte oder im digitalen Raum. Gleichzeitig bietet uns das Digitale völlig neue Möglichkeiten, verschiedene Formate abrufbar zu machen. An unserem Institut haben wir zuletzt auch an Editionen zu Josef Winkler und Werner Kofler gearbeitet. Letzterer hat auch viele Hörspiele produziert. Ich sage zu meinen Studierenden immer: „Versuchen Sie mal, Ihr Ohr an ein Buch zu halten, um einem Hörspiel zu lauschen.“ An diesem Beispiel wird sichtbar: In einer multimedialen Welt braucht auch die Wissenschaft multimediale Möglichkeiten, um ihre Erkenntnisse zu publizieren.

Buchpräsentation

Bosse, A. & Fanta, W. (2019). Textgenese in der digitalen Edition. Beihefte zu Editio, Band 45. Berlin: De Gruyter.

Der Band mit dem begleitenden Online-Portal ist ein Produkt der gleichnamigen Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, die im April 2017 in Klagenfurt stattfand. Anke Bosse und ihr Team luden zur Tagung Wissenschaftler*innen aus vielen europäischen, auch nicht-deutschsprachigen, Ländern ein. Der Großteil der Referent*innen arbeitet als Mitarbeiter*innen in Editionsprojekten.  

Im Rahmen der Buchpräsentation am 9. Jänner 2020 (19:30 Uhr | Musil-Institut Klagenfurt):

  • Launch des Online-Panoptikums in einer Präsentation von Leon Bernhofer
  • Artur R. Boelderl im Gespräch mit Anna Schober-de Graaf, Anke Bosse und Walter Fanta zur Frage, wie Texte entstehen und wie der Entstehungsprozess am besten gezeigt werden kann

Zu den Person

Anke Bosse ist Professorin für Neuere deutschsprachige Literatur und seit 2015 Leiterin des Robert-Musil-Instituts für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die deutschsprachige Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts (insbesondere der Goethe-Zeit), Archiv und Edition, Critique génétique und Schreibforschung, Intertextualität und Interkulturalität, Orientalismus, (inter-)mediale Fragestellungen und Digital Humanities.

Walter Fanta ist Privatdozent am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Editionswissenschaften, österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts und Textgenetik. Walter Fanta leitet seit 2016 das Projekt „Musil-Hybridedition“.