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Georg Streißgürtl: Leaving Care in Österreich: Dimensionen von Agency beim Aufbau einer selbstständigen Lebensführung. Budrich, 2023 (Schriftenreihe der ÖFEB-Sektion Sozialpädagogik)

Als Care Leavers werden im internationalen Diskurs junge Menschen bezeichnet, die eine Zeit ihres Lebens außerhalb der Familie in Einrichtungen der Jugendhilfe bzw. in Pflegefamilien gelebt haben. In Österreich ist das Ende dieser Maßnahmen mit der Vollendung des 18. Lebensjahres gesetzlich festgelegt. Dieser Übergang wird oft als sehr abrupt erlebt und ist für die jungen Menschen mit vielen Herausforderungen verbunden.

Zudem ist der Übergang ins Erwachsenenleben mit gesellschaftlich präfigurierten Vorstellungen von Normalität verbunden. Diese tragen eine ambivalente Botschaft an junge Menschen mit Careerfahrung heran, die in hohem Maße verunsichern kann: Einerseits ruft sie eine gesellschaftlich anerkannte Praxis – deutlich sichtbar an den Lebensverläufen der Peers – dazu auf, sich auszuprobieren, selbst gewählte Wege einzuschlagen und Rückschläge in Kauf zu nehmen, andererseits trägt dieselbe Gesellschaft, in Gestalt des sozialstaatlichen Akteurs, die Botschaft an sie heran, zum Zeitpunkt des Übergangs gewissermaßen mit dem Prozess des Erwachsenwerdens schon fertig zu sein. Auch haben Care Leavers hinsichtlich der Angleichung an diese Normalitätskonstruktion i.d.R. weit weniger Ressourcen zur Verfügung. Insbesondere sind stabile soziale Beziehungen und Unterstützungsnetzwerke häufig nur schwach ausgeprägt, so dass der Prozess des Übergangs oft mit Einsamkeit und dem Gefühl sozialer Isolation einhergehen kann.

Diese Fiktionen von Normalität und die damit einhergehenden subjektiven idealtypischen Vorstellungen von Selbstständigkeit werden im Buch aufgegriffen, eingehend diskutiert und an den Diskurs um Agency angeschlossen. Unter Agency, zumeist übersetzt als Handlungsfähigkeit oder Handlungsmächtigkeit, entfaltet sich in den Sozialwissenschaften aktuell eine breite und heterogene Diskussionslandschaft. Diese Arbeit setzt an einer relationalen Verstehensweise des Begriffs an, die unter anderem danach fragt, wie Agency sozial ermöglicht, begrenzt und hergestellt wird, und ergänzt diese um eine narrative Sicht zur Arbeitsdefinition Relationale Narrative Agency.

Damit wird eine grundlagentheoretische Perspektive eingenommen, die einen übergreifenden wissenschaftlichen Zugang zur Care Leaver-Thematik eröffnet. Das Buch umfasst dementsprechend einen umfangreichen theoretisch orientierten Teil, an den sich eine qualitative empirische Studie anschließt, die ein biografisch-narratives Vorgehen mit einer Agency-Analyse verbindet.

Die Ergebnisse verweisen auf die vielschichtigen Vorstellungen eines eigenverantwortlichen Lebens, die eng mit der Frage nach Identität und dem subjektiven Streben nach Sinn und Handlungsfähigkeit verbunden sind. Dieses Streben ist zudem Ausdruck vielfältiger Interdependenzen innerhalb der relationalen sozialen Gefüge und der damit einhergehenden Fiktionen von Normalität.

Dies stellt auch die professionelle Soziale Arbeit vor Herausforderungen, denen nicht mit vereinfachenden Antworten begegnet werden kann. Dennoch wird abschließend der Versuch unternommen, die Erkenntnisse in Ideen für die sozialpädagogische Praxis einmünden zu lassen.

Georg Streißgürtl ist derzeit Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung an der Universität Klagenfurt.