Rätselhafte Bildwelten
In einer Welt, in der das Subjekt stets damit zu tun hat, sich ein Bild von sich zu machen und andere darüber ins Bild zu setzen, untersucht das Forschungsgebiet der Visuellen Kultur wesentlich mehr als künstlerische Werke der Hochkultur. Anna Schober beschäftigt sich (auch) mit populären Bildwelten und lernt daraus viel über das Betrachten sowie über Betrachtete und Betrachtende.
Wie erklären Sie sich, dass Bilder so viel mehr Macht als Worte haben?
Bilder machen evident, sie erzeugen Präsenz. Auf einem Bild hat man viele Informationen gleichzeitig auf einen Blick versammelt, wobei diese auf Authentisches bzw. Wahrheiten verweisen können. Bilder setzen etwas, sie können sich nicht relativieren oder zurücknehmen, wie es die Sprache kann. Bildwelten überzeugen momenthaft im Sinne von: „Ich sehe es vor meinen Augen.“
Inwiefern passt dieser Befund zu unserer Zeit?
Auch die Armenbibel des Mittelalters oder die Portale der großen Kathedralen hatten eine ähnliche Funktion: Sie wollten etwas präsent machen, in dem Fall christliche Ideologie oder eine Vorstellung vom Jenseits. In der Gegenwart sind die Medien jedoch extrem differenziert, das heißt, wir haben mit Film, Fernsehen, Internet, Fotografie, Plakat usw. sehr viele verschiedene visuelle Medien. Und im Gegensatz zu anderen Epochen ist die Bedeutung der Dinge für uns heute rätselhafter und schwerer greifbar denn je, auch wenn sie scheinbar vor unseren Augen liegt. Während man sich im Mittelalter an die Heilige Schrift und die theologische Auslegung in den Predigten halten konnte, hat das Subjekt heute viel damit zu tun, zu interpretieren, Bedeutungen zu hinterfragen und sich selbst mit ihnen zu positionieren. Dabei sind wir auf uns selbst zurückgeworfen, was uns auch verunsichert.
Was kann das Studium Visuelle Kultur leisten?
Wir können Fragen dazu aufwerfen, wie man sich mit Bedeutungen auseinandersetzt. In pluralistischen Gesellschaften treten Interpretationen in Widerstreit miteinander – solche Auseinandersetzungen können rekonstruiert werden und sagen viel über Gesellschaften aus. Zugleich gibt es seit mehreren Jahrhunderten die Hoffnung, dass visuelle Medien, insbesondere Fotografie und Film, zu einer demokratischeren Gesellschaft beitragen und dass über sie Gerechtigkeit und Emanzipation befördert werden. Gleichzeitig stehen sie auch im Verdacht auszuschließen.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Die Visual Culture Studies kommen aus den Ausläufern der 68er-Bewegung, im Zuge derer Frauen, Schwarze, Schwule und Lesben herkömmliche Bildregime hinterfragt haben. Es ging darum vorzuführen, wo Zuordnungen oder Klassifikationen von Normal vs. Nicht-Normal getroffen werden. Das Bildregime des Mainstreams ist als Machtregime entlarvt worden, und man wollte durch Problematisierung und Analyse andere Verhältnisse greifbar machen.
Gleichzeitig kann heute doch jede und jeder Bilder produzieren und verbreiten? Ist die Macht also demokratischer verteilt?
Wir greifen heute auf vielfältige Weise auf Bild-Reservoirs zurück und entwerfen so neuartige Bilder in unterschiedlichen medialen Formaten. Wie Blickverhältnisse aber geformt sind, wie diesbezügliche Konflikte ausgehen und wie Bilder über Medien verbreitet werden, ist eine Frage von Auseinandersetzungen, aber auch unterschiedlicher Ressourcen. Das Internet bietet – im Verhältnis zu den regionalen Plakaten und Flyern – natürlich viele Möglichkeiten, letztlich halte ich es aber für Fiktion, dass jede und jeder sich in diesem Raum gleichwertig in eine Auseinandersetzung einschalten kann.
Wenn man den Instagram-Stars der Gegenwart folgt, sieht man relativ althergebrachte Sujets: Landschaften, Portraits, Stillleben. Wie erklären Sie sich das kleine Repertoire?
Der Raum, die Landschaft, das Drumherum sind Ausdruck des Subjekts. Ähnlich der Kleidung oder der Mode: Der Raum wird zur Fortsetzung der Selbstinszenierung, Teil einer bestimmten Selbstkultur. Hier zählt: Jede und jeder von uns muss einzigartig und originell sein. Wenngleich heute auf Instagram und Facebook alte Sujets weiterverarbeitet werden, sind sie doch Ausdruck der heutigen Epoche und ihrer Selbstkultur.
Teil der Selbstinszenierung ist auch das Spiel mit Geschlechterrollen. Wie wandelbar ist Geschlecht denn?
Geschlechterbilder zeigen uns, dass sich in den letzten Jahrzehnten sehr viel getan hat. Heute gibt es die Anforderung der Gesellschaft an die oder den Einzelnen, mehrere Aspekte zu bedienen: privat und öffentlich zu sein, Familie und Job zu bedienen, ehemals männliche und ehemals weibliche Aufgaben in einer Person vereint auszuführen. Das reflektieren auch die Bildwelten, meines Erachtens in Form eines Booms von doppelgeschlechtlichen Bildern. Das geht auch in den Mainstream ein, wie wir beispielsweise an Plakatwerbung für Unterwäsche erkennen, die Frauen in Männerunterwäsche posieren lässt. Dabei werden Geschlechterklischees aber nicht notwendigerweise aufgebrochen: Viele Bilder zeigen auf solche Weise eine Hypersexualisierung, die paradoxerweise überlieferte Klischees von Männlichkeit und Weiblichkeit bestätigt, auch wenn sie gleichzeitig mit diesen Klischees spielen. Das Patchwork-Selbst ist eine zeitgenössische Ideologie, wir brauchen aber selbstverständlich auch Kontinuität. Diese Bilder sind nicht nur Zeichen der Befreiung, sondern auch einer neuen Belastung des Subjekts.
Ist es für den Menschen anstrengend, ein Bild von sich zu basteln?
Ja, aber auch enorm wichtig. Wir können uns nicht mehr hinter einer Gruppe verstecken. Früher, d. h. noch in den 1950er Jahren, war man Teil großer Organisationen, einem Betrieb oder einer Partei, und alles – vom Sommercamp bis zum Automobilclub – war dadurch bestimmt. Heute muss man sich immer wieder sehr flexibel und angepasst an neue Netzwerke und Lebensabschnitte neu entwerfen – IKEA steht zum Beispiel dafür. In gewisser Weise – so die Ideologie – kann man sich das Leben und sich selbst heute wiederholt selbst zusammenbasteln, man muss es aber auch selbst zusammenschrauben.
Wann ist denn der Mensch nicht ein Bild von sich mit einem bestimmten Filter, sondern echt?
Diese Sehnsucht nach authentischen Erfahrungen wird auch über Bilder vermittelt, über Kunst, über Bilder, die mit Religion und Spiritualität in Beziehung stehen. Visuelle Kultur, und vor allem auch die bildenden und darstellenden Künste eröffnen Möglichkeiten des Sich-Selbst-Wahrnehmens, die jenseits von dem Bild, das man nach außen vermitteln möchte, liegen. Was man sieht, ist ein Zipfel, dahinter ist ein ganzer See an Erfahrungen. Tanz erlebt beispielsweise derzeit einen starken Boom: Er ist visuell, aber vermittelt dazu noch so viel mehr an sinnlichen Eindrücken.
für ad astra: Romy Müller
Zur Person
Anna Schober ist Professorin für Visuelle Kultur am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft. Ihr Schwerpunkt liegt auf den Bereichen populäre Bildmedien (Film, Fotografie und Ausstellungsästhetik) und Bildende Kunst, insbesondere der Moderne und Gegenwart. Aktuell führt sie ein von der DFG gefördertes Projekt zu „Everybody“ durch, das sind Figuren, die von Filmen, Literatur, bildender Kunst, aber auch von der Politik, der Werbung und im Internet eingesetzt werden, um „alle“ anzusprechen. Das Buch „Metamorphosen von Kultur und Geschlecht. Genealogien, Praktiken und Imaginationen“ erschien im Herbst 2016 im Wilhelm Fink Verlag.