Netflix weiß, was Sie sehen wollen
Streaming-Plattformen lösen nach und nach das klassische Fernsehen ab. Mit Serien on demand lasst sich gutes Geld machen. Worauf sich der Erfolg von Netflix begründet und wie Serienerfolge gelingen, erklärt Medienforscherin Elena Pilipets anhand von „House of Cards“.
House of Cards (HoC) startete erst 2013 als erste Eigenproduktion von Netflix und war von Beginn an von einem enormen Hype begleitet. Was macht diesen aus?
Es handelt sich bei HoC um anspruchsvolles Qualitätsfernsehen, das nichts mehr mit dem herkömmlichen Medium Fernsehen zu tun haben will. Der Hype um House of Cards war schon vor der Ausstrahlung von Netflix selbst verursacht und aufgrund von Assoziationen zu Datenbanklogik und Big-Data-Creativity zunächst ungewöhnlich. Dazu kommt die narrative Komplexität der Serie, die von einem sehr elaborierten Writers-Team, Beau Willimon als Showrunner und David Fincher als Produzent, kreiert wird. Auch die Hauptdarsteller Kevin Spacey und Robin Wright sind nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Produzenten, Drehbuchmitautoren und an der konkreten Szenengestaltung beteiligt.
Wie funktioniert das Vertriebssystem Netflix? Begonnen hat das Unternehmen 1997 mit
dem ersten Online-DVD-Verleih von bereits existierenden Filmen und TV-Serien. Aufgrund des online aufgezeichneten Nutzerverhaltens konnten individuelle Empfehlungen generiert werden. Die Menschen haben sich auf Serien eingelassen und setzten sich intensiv damit auseinander. Aus dem Wissen, was die Leute gerne schauen, ist schließlich die Idee gewachsen, eigene Serien zu machen. Netflix ist mittlerweile Streaming-Marktführer und seit 2016 in allen Ländern, außer in China, Nordkorea, Syrien und auf der Krim verfügbar.
Wie kam es zum Erfolgsprodukt House of Cards?
Oft bauen die neuen Serien auf früheren Erfolgsgeschichten auf und werden so gleich mit diesem Vorwissen vermarktet. HoC ist ein Remake einer erfolgreichen britischen Serie nach einem Roman von Michael Dobbs, der dann auch für Netflix als Consultant gearbeitet hat. In den 1990ern wurde die Serie, in der das Thema Postthatcherismus verarbeitet wird, von denselben ZuschauerInnen gesehen, die Filme von David Fincher und Filme mit Kevin Spacey in Antiheldenrollen konsumierten. Später wurde die britische Serie von Netflix in einen US-amerikanischen Kontext übersetzt, der aber attraktiv für ein globales Publikum sein musste. Diese Bricollage-Logik von Wiederholen, Vermischen und Wiederaneignen in einem neuen Kontext entspricht auch ganz dem popkulturellen Versprechen der Konvergenzmedien und dem von Netflix: Serien produzieren mit vielfältigen Inhalten, die zur richtigen Zeit das richtige Publikum erreichen. So geht es in der Serie nicht darum, die politische Realität möglichst authentisch oder als Dokumentation zu verpacken, sondern darum, spielerisch
den Zeitgeist zu treffen. Die ZuseherInnen hatten bei der Staffel 4 von HoC, mitten im Wahlkampf zwischen Trump und Clinton, hohe Erwartungen – und wurden nicht enttäuscht.
Wie lassen sich diese Spannung und eine komplexe Geschichte über einen langen Zeitraum halten?
Die Serie reflektiert ständig, was relevant war und gerade ist, aber sie provoziert auch. Am Ende jeder Folge werden wir durch Cliffhanger immer neu überrascht. Die Spannung wird durch Abweichungen in der Wiederholung aufgebaut, so wird das Interesse auf Dauer aufrechterhalten. Die Medienforschung bezeichnet dies als „Mainstream der Minderheiten“, ein populäres Phänomen, das darauf ausgelegt ist, im breiten Kontext erfolgreich zu werden. Andererseits ist es gleichzeitig
ein Nischenprodukt und spielt mit Abweichungen und Grenzüberschreitung. Die Figuren in HoC haben alle ein gewisses Provokationspotenzial: Feminismus, Homo- und Bisexualität, Rassismus, Drogenabhängigkeit, Mord sowie verschiedene Subkulturen oder politische Konflikte wie der typische zwischen Russland und den USA werden zum Thema gemacht. Als Zuschauer ist man kontinuierlich herausgefordert und irritiert.
Serien wie HoC sind keinem klassischen Genre zuzuordnen. Warum und wie passiert das?
Die Genres vermischen sich immer stärker. Um diesen gewünschten Genre-Mix zu erreichen, werden qualifizierte Medienexperten eingesetzt, so genannte Taggers. Ihre Arbeit ist es, exzessiv Serien zu schauen, um herauszufinden, an welchen Stellen Kombinationen von verschiedenen Genres funktionieren und wo nicht. Netflix-Serien kombinieren die Erfahrungen der Taggers mit kreativen Entscheidungen der Produzenten und dem algorithmisch errechneten Wissen zu unserem Sehverhalten.
Frank Underwood spricht zum Publikum. Wozu?
HoC verbindet alle Möglichkeiten an narrativen Strategien. Das beste Beispiel dafür ist die „Durchbrechung der vierten Wand“ durch den Protagonisten Frank Underwood, wenn er uns ZuseherInnen direkt anspricht. Die Strategie ist schon aus dem Theater von Bertolt Brecht bekannt. Doch von ihm war das als Verfremdungsstrategie gedacht. Das Publikum sollte durch die Unterbrechung darauf hingewiesen werden, dass das Schauspiel nur eine Illusion ist. Netflix aber verkauft die direkte Adressierung als Interaktivität, um damit die Zusehenden noch stärker in die Handlung zu involvieren. Und Netflix bricht als Medienplattform selbst die vierte Wand durch, indem den Zuschauenden suggeriert wird, einen 100 Prozent kontextuellen Content zur Verfügung zu stellen. Diese Empfehlungslogik beruht darauf, dass das Unternehmen Netflix an uns etwas zurückverkauft, was wir selbst in die Serie investiert haben, nämlich unsere Präferenzen und unseren Geschmack, jedoch in einer neu kombinierten Form. Netflix wurde so zu einer Datenbank unserer kulturspezifischen Unterhaltungspräferenzen.
Wie kommt Netflix zu den Daten?
Netflix macht die eigenen Vermessungsaktivitäten scheinbar völlig transparent und betont, keinesfalls in den privaten Raum der ZuseherInnen einzudringen. Aber: Netflix verfolgt eine intensive Tracking-Logik. Durch das Online-Schauen kann gemessen werden, wann das Schauen unterbrochen wird oder wann zurückgespult wird. Diese Daten werden gespeichert und ausgewertet. Netflix ist ja nicht nur ein kulturelles Phänomen, sondern vornehmlich ein IT-Unternehmen, das in den eigenen Werbestrategien sehr geschickt damit spielt. Serialisierung und Vernetzung sind die beiden Komponenten, die die digitalen Kulturindustrien heute ausmachen; House of Cards als Produkt und Netflix als Medienplattform sind dafür Paradebeispiele.
für ad astra: Barbara Maier
Zur Person
Elena Pilipets ist Universitätsassistentin am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft. Sie forscht zu digitalen Medien sowie populären Kulturen und lehrt Cultural Studies, Medien- und Kulturtheorie.