Mythos in der Struktur des menschlichen Denkens
Mayya Soboleva erarbeitet, gefördert vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, ein neues philosophisches Modell, wie wir den Mythos in der Struktur des menschlichen Denkens begreifen können.
„Die aktuelle Situation, in der der Coronavirus die Welt in seinen Bann hält, ist auch interessant, um Mythen zu verstehen. Wir erleben derzeit eine große Unsicherheit und wir können nicht einschätzen, wie groß die Gefahr real ist, wie wir damit umgehen können und wie die Welt nach dieser Krise aussieht. Dies führt unter anderem dazu, dass Mythen gegenwärtig zunehmend produziert werden“, erläutert die Philosophin Mayya Soboleva.
Seit rund einem Jahr arbeitet sie im FWF-Projekt „Mythos in der Struktur des menschlichen Denkens und eine Hermeneutik des Mythos“ an einem neuen philosophischen Zugang zum Thema. Gefragt danach, wie man einen Mythos von einem Nicht-Mythos gemeinhin unterscheidet, führt sie aus: „Der Mythos gilt oft als erfundene Geschichte, als etwas Phantastisches, als etwas, das im Gegensatz zu Wissen steht. Mythos wird häufig auch als unreifer Logos, als unreife Vernunft, begriffen.“ Sobolevas Zugang unterscheidet sich jedoch: „Für mich gehört der Mythos zur menschlichen Rationalität. Ich verbinde ihn mit diskursiver Einbildungskraft, und als solches ist der Mythos Teil der menschlichen Vernunft.“ Die menschliche Vernunft würde demnach aus vielen verschiedenen Anteilen bestehen. Den Mythos an sich wolle Soboleva gegenüber den anderen Elementen positionieren.
Es gibt schon eine längere philosophische Tradition dafür, den Mythos als Teil des Logos zu betrachten. „Zahlreiche Philosophen haben den Mythos als Versuch begriffen, die Welt zu verstehen und zu erklären – in Allegorien, in Metaphern, in Symbolen“, so Soboleva. Doch warum brauchen wir Mythen auch heute noch? Soboleva führt aus: „Wir wissen, dass die Sonne nicht auf- und untergeht, sondern dass dieser Effekt der Drehung der Erde zu verdanken ist. Dennoch behalten wir unsere Formulierungen bei. Dieses Beispiel zeigt: Wir sind nicht eindimensional, sondern wir können wissenschaftlich, poetisch, religiös und metaphysisch zugleich sein.“
Allen bisher publizierten Theorien zum Mythos ist gemeinsam, dass der Mythos zwar mit dem Logos zu tun hat, aber dass es sich um einen nicht vollkommen entfalteten Logos handelt. „Meine These ist aber anders. Um das zu beweisen, brauche ich auch eine neue Methodologie, die ich versuche zu entwickeln. Ziel ist eine bedeutungstheoretische Methodologie, die lebensphilosophisch-hermeneutisch fundiert ist“, erläutert Soboleva zu den Zielen ihres Projekts.
Zur Person
Mayya Soboleva ist Professorin am Institut für Philosophie der Fakultät für Kulturwissenschaften. Sie studierte Chemie und Philosophie an den Universitäten in Marburg, Nürnberg und St. Petersburg, wo sie ihre Leidenschaft zur Philosophie mit einer Abschlussarbeit über Ernst Cassirers „Theorie des Mythos“ zu Papier brachte. 1992 folgte ihre Dissertation im Fach Chemie und 2000 provomierte Mayya Soboleva mit einer Betrachtung von Cassirer und dessen „Philosophie der symbolischen Formen“. Ihre Verschriftlichung erschien im Jahr 2000 und ist bis heute eines der Standardwerke in Russland.
2004 bis 2014 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen verschiedener, von ihr initiierter, Forschungsprojekte tätig. Auf Einladung der Mildred Miller Fort Stiftung folgte 2008 bis 2009 ein Aufenthalt an der Columbus State University (USA).
Im Jahr 2010 habilitierte Mayya Soboleva im Fachgebiet Philosophie an der Philipps-Universität Marburg und arbeitete seitdem dort als Privatdozentin. Im Jahr 2013 war sie in Helsinki am Aleksanteri Institute als visiting fellow im Bereich „Russian and Eastern European studies“ tätig. Im März 2014 nahm sie den Ruf an die Alpen-Adria-Universität an.