Tatjana Tolmaier und Luca Melchior im Gespräch

„Mehrsprachigkeit findet auf der Straße statt.“

Tatjana Tolmaier ist Direktorin der zweisprachigen (deutsch/slowenischen) katholischen Privatschule Hermagoras/Mohorjeva in Klagenfurt/Celovec. Im Gespräch mit dem Mehrsprachigkeitsforscher Luca Melchior zeigt sich: Mehrsprachigkeit braucht nicht nur Inseln, wo sie praktiziert wird,  sondern breite gesellschaftliche Sichtbarkeit.

Frau Tolmaier, wie mehrsprachig sind Sie?

Tatjana Tolmaier: Ich bin als Kind einer einsprachigen Mutter und eines kärntner-slowenischen zweisprachigen Vaters aufgewachsen. Mit dem Vater habe ich immer slowenisch gesprochen, mit der Mutter deutsch. Mein Vater war hier sehr konsequent, obwohl das in den 1970er Jahren im Jauntal gar nicht so einfach war. Diese Konsequenz versuchte ich auch mit meiner jetzt bereits studierenden Tochter zu leben, die jetzt vier Sprachen spricht.

Luca Melchior: Ich komme aus dem Friaul, also auch aus einer mehrsprachigen Region. Meine ersten Jahre waren eher einsprachig Italienisch geprägt. Erst ab circa zehn Jahren habe ich begonnen, das Friaulische, das als Gesellschaftssprache stets präsent war, zu sprechen. Heute versuche ich, in meiner Familie italienisch, deutsch und friaulisch ausgeglichen zu kommunizieren. Das gelingt uns nicht immer ganz konsequent, aber wir bemühen uns.

Welche Vorteile haben mehrsprachig aufwachsende Kinder?

Melchior: Die Vorteile sind vielfältig. Unter anderem haben sie ein stärkeres metasprachliches Bewusstsein, das heißt zum Beispiel, sie wissen früh, mit wem sie in welcher Sprache kommunizieren können. Außerdem können mehrsprachige Kompetenzen auch dabei unterstützen, einen leichteren Zugang zu neuen Sprachen zu finden. Wenn man beispielsweise früh Slowenisch lernt, kann das auch eine Brücke zu anderen slawischen Sprachen
sein.

Häufig wird gegen mehrsprachige Schulen eingewandt: „Da lernt man dann ja keine der Sprachen richtig!“ Wie begegnen Sie diesem Einwand, Frau Tolmaier?

Tolmaier: Das Argument ist nicht richtig. Es stimmt auch nicht, dass die Kinder die Sprachen mischen und sich daraus Probleme ergeben. Schwierig kann der Lernprozess werden, wenn die Eltern selbst bei der Verwendung ihrer Sprache inkonsequent sind.

Melchior: Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass zweisprachig aufwachsende Kinder insgesamt einen größeren Wortschatz aufweisen. Das bedeutet aber nicht, dass sie in allen von ihnen gesprochenen Sprachen einen gleich entwickelten Wortschatz haben. Wir haben häufig die Haltung, dass Schülerinnen und Schüler an idealen einsprachigen SprecherInnen gemessen werden. Das entspricht aber selten der Realität. So ist beispielsweise jeder und jede in bestimmten kommunikativen Domänen sprachlich stärker als in anderen. Mir zum Beispiel fehlt völlig das Vokabular für eine Unterhaltung über Nanophysik – in allen von mir gesprochenen Sprachen.

Welche Schülerinnen und Schüler kommen zu Ihnen?

Tolmaier: Aktuell kommen etwas mehr Kinder aus einsprachigen Familien als aus mehrsprachigen. Viele dieser deutschsprachigen Kinder besuchen vor der Volksschule den zweisprachigen Kindergarten, den es bei uns im Haus gibt. Dort werden die Kinder schon auf unser System der Sprachenzentrierung vorbereitet. Sie können dann meist vom ersten Tag an zumindest passiv dem Unterricht folgen, den wir von Beginn an mit dem
tageweisen Wechsel der Unterrichtssprache gestalten.

Wie funktioniert das?

Tolmaier: Wir unterrichten einen Tag gänzlich in Slowenisch, den anderen Tag gänzlich in Deutsch. Wir bleiben aber nicht nur in einer Sprache, sondern auch der Lehrer oder die Lehrerin bleibt die gleiche. In den letzten Jahren haben wir gesehen, dass die Bedeutung der Lehrkräfte als Bezugspersonen zugenommen hat.

Wie zweisprachig ist Ihre Schule insgesamt?

Tolmaier: Wir sind ein komplett zweisprachiges Haus. Alle, die hier arbeiten, sprechen Slowenisch und Deutsch. Die beiden Sprachen sind überall präsent. Wenn man aber das Gebäude verlässt und auf die 10.-Oktober-Straße hinaustritt, ist das Slowenische leider fast weg. (Anm. der Redaktion: Die Straße ist bezeichnenderweise nach dem Datum der Volksabstimmung 1920 in Kärnten benannt, bei der es um die staatliche Zugehörigkeit einiger vorwiegend zweisprachiger Gebiete im Südosten Kärntens ging.) Wir bemühen uns allerdings, unsere Schülerinnen und Schüler immer wieder bewusst in zweisprachige Kontexte zu bringen, wie beispielsweise bestimmte gemeinsame Festivitäten.

Melchior: Ähnliches zeigt sich auch in vielen anderen Projekten in Wales, im Baskenland oder in Neuseeland. Schulprojekte funktionieren häufig sehr gut; die Sprache wird in der Schule gelernt, gesprochen und gelebt. Das hat aber leider nicht automatisch Auswirkungen auf den Gebrauch der von Minderheiten gesprochenen Sprachen in der Gesellschaft. Damit diese Schulen nicht kleine Inseln der Glückseligkeit bleiben, muss Mehrsprachigkeit auch auf der Straße stattfinden.

Mehrsprachigkeit ist oft Thema erhitzter politischer Diskurse. Warum lässt sich diese Diskussion so schwer entspannen?

Melchior: Wir haben diesen Hang zur Einsprachigkeit, weil unsere europäischen Staaten als einsprachige Nationalstaaten entstanden sind. Die im 19. Jahrhundert wurzelnde Vorstellung, wonach sich ein Staat mit einer Nation mit einer Sprache identifiziert, ist noch sehr stark im Bewusstsein verankert. Dieses Bild haben die Staaten lange bedient; auch, um eine Sprache in einer Gesellschaft durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund wird häufig die autochthone Mehrsprachigkeit kritisch gesehen. Das bedeutet aber nicht gleichzeitig eine allgemeine Ablehnung der Mehrsprachigkeit. Um
mit dem Soziologen Pierre Bourdieu zu sprechen: Die Wertigkeit ist auch eine Frage des Markts der Sprachen. Gute Englischkenntnisse sind zum Beispiel allgemein hoch angesehen.

Tolmaier: Ähnliches beobachten wir auch bei den Anfragen der Eltern. Viele wollen, dass ihre Kinder früh mit Englisch in Berührung kommen. Das bieten wir nun auch an. Wir wollen dabei aber auch anmerken: Im Leben gibt es viele – später angebotene – Gelegenheiten, eine Sprache wie Englisch zu lernen. Das Slowenische hat in den Lehrplänen der Mittleren und Höheren Schulen aber einen deutlich geringeren Stellenwert.

Zum Schluss nochmals die Frage nach Ihren privaten Gewohnheiten: In welcher Sprache sind die Bücher, die derzeit auf Ihren Nachttischen liegen?

Tolmaier: Dort liegt derzeit ein deutschsprachiges Buch. Ich lese oft auch slowenische Werke. Das Abschalten mit einem Buch nach anstrengenden Tagen funktioniert aber sowohl im Deutschen als auch im Slowenischen.

Melchior: Am Nachttisch liegen aktuell drei Bücher auf Deutsch, eines auf Friaulisch und eines auf Italienisch. Italienisch ist die Sprache, in der ich meine formale Ausbildung erhalten habe, ich lese aber auch sehr gerne auf Deutsch. Im Friaulischen gibt es leider wenig. Generell bin ich offen für alle Sprachen, und das auch in allen Medien. Egal ob Fernsehen, Zeitungen oder Online-Portale: Medien können die Sichtbarkeit von Sprachen stark unterstützen.

für ad astra: Romy Müller