„Man muss die Quellen gegen den Strich lesen.“

Was können Alltagsgegenstände wie eine Schnabeltasse viele Jahre nach ihrem Einsatz über kulturelle und soziale Zusammenhänge aussagen? Elisabeth Lobenwein spricht über die Arbeit mit geschichtswissenschaftlichen Quellen und ihren Forschungsschwerpunkt in den Medical Humanities.

Die Historikerin Elisabeth Lobenwein beschäftigt sich seit ihrer Studienzeit mit der Kultur- und Sozialgeschichte von Gesundheit und Krankheit. Als Präsidentin des Vereins für Sozialgeschichte der Medizin (2014–2021) konnte sie sich intensiv mit verschiedenen Themen auseinandersetzen und kooperierte mit diversen Institutionen, so auch mit dem Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt.

Einrichtungen wie das Ingolstädter Museum verwahren in ihren Depots einen immensen und stetig wachsenden Schatz an Gegenständen, die vor Ort in ihrer dreidimensionalen Materialität betrachtet oder über Sammlungsdatenbanken untersucht werden können. Hinter den Datenbanken steckt ein enormer Arbeitsaufwand, denn sie werden akribisch erstellt und laufend mit Daten angereichert, damit sie für Forscher*innen benutzbar sind. Dazu werden Beschreibungen aus alten Katalogen übertragen und mit 3D-Aufnahmen ergänzt, um die Körperlichkeit der Objekte erfassbar zu machen.

Großen Zuspruch finden auch Ausstellungen, oft mit überraschend aktueller Relevanz und Resonanz, etwa zur Verabreichung der ersten Vakzination mit Kuhpocken oder dazu, wie man Spucknapf und Weihrauchkugeln zur Abwehr von Infektionskrankheiten eingesetzt hat. Über die allseits bekannte Schnabelmaske des Pestdoktors erfährt man so, dass die erste Abbildung deutlich nach dem Ende des Mittelalters im Jahr 1665 in Rom auftauchte. Bei genauer Betrachtung der Quellen entdeckten Forscher*innen, dass dieses Objekt in Deutschland nicht primär als medizinisches Instrument nach dem neuesten Stand der Technik eingesetzt wurde. Vielmehr tauchte es in Flugblättern als Karikatur auf, im Versuch, sich mit Spott vom veralteten Umgang südeuropäischer Länder mit Infektionskrankheiten zu distanzieren.

Lobenwein betreute als Vereinspräsidentin die Herausgabe von sieben Bänden der Open-Access-Zeitschrift „Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin“, die Gesundheit und Krankheit interdisziplinär aus historischer, kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive beleuchtet. Beitragende zur neuen Ausgabe, Band Nr. 20, betrachten die Kulturgeschichte(n) der Impfung und finden unter anderem Informationen zu den teils heftigen Debatten, die auf die Einführung der Schutzimpfungen für Pocken folgten, sowie Belege dafür, dass Eltern die Polio-Impfung für ihre Kinder in den 1950er Jahren lautstark einforderten. Band Nr. 17 greift schwerpunktmäßig die medikalisierten Kindheiten von Kindern und Jugendlichen in Fürsorgeerziehungseinrichtungen auf – ein sensibles und emotional belastendes Thema, das zusätzlich durch eine herausfordernde Quellenlage erschwert wird.

Die Objektgeschichte hat durch sich wandelnde Forschungsansätze eine neue Aufmerksamkeit erlangt. Im gesundheitsgeschichtlichen Kontext gewinnen damit auch nichtmedizinische Objekte an Aussagekraft, wie in Band Nr. 19 der Zeitschrift gezeigt wird. Forscher*innen untersuchen etwa, welche Auswirkungen Gewicht und Gestaltung eines Gegenstands auf die Handhabung hatten. Ob eine Schnabeltasse mit einem Griff ausgestattet war oder nicht, gibt Auskunft über den vorgesehenen Gebrauch durch Pflegende oder durch die Patient*innen selbst. Um Dekubitus zu verhindern, mussten pflegende Personen damals wie heute den richtigen Umgang mit dem Bettlaken beherrschen. Ein Paar hölzerne Ski werden nicht lediglich als altmodische Sportausrüstung, sondern als essenzielle Ausstattung einer Fürsorgerin in Tirol verstanden, die damit im tiefsten Winter Familien in abgelegenen Orten betreuen konnte.

Zwei große Themenbereiche – der Umgang mit vulnerablen Gruppen und die soziale Gerechtigkeit – ziehen sich wie ein roter Faden durch das Gespräch mit Elisabeth Lobenwein. Ihr Interesse für die Kultur- und Sozialgeschichte von Gesundheit und Krankheit wurde bereits im Lehramtsstudium geweckt, dreht es sich doch um Fragen universeller Natur: Wie bleibe ich gesund? Wie werde ich wieder gesund, wenn ich erkranke? Wie erhalte ich meine Gesundheit bis ins Alter?

„Die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit ist eine anthropologische Konstante, die jede Person in jeder Epoche beschäftigt und betrifft, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise.“
(Elisabeth Lobenwein)

„Die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit ist eine anthropologische Konstante, die jede Person in jeder Epoche beschäftigt und betrifft, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise“, sagt Elisabeth Lobenwein.

Neben der Perspektive der Ärzt*innen, welche Ausbildung sie hatten, was sie geleistet, geschrieben und erfunden haben, gilt heute die Sicht der Patient*innen, wie auch die geschlechtergeschichtliche Perspektive, als essenziell. Der britische Historiker Roy Porter lenkte in seinem 1985 erschienenen Artikel „The Patient‘s View: Doing Medical History from Below“ erstmals den Blick auf die Patient*innen und löste damit eine Neuorientierung in der gesundheitshistorischen Forschung aus. Folglich spielen in Lobenweins Arbeit nicht nur akademisch ausgebildete Ärzt*innen eine Rolle, sondern – speziell in Bezug auf die Frühe Neuzeit – auch die große Gruppe an Heiler*innen, zu denen Hebammen und Bader sowie Laienheiler*innen in ländlichen Gegenden zählten. Diese gaben ihr Wissen über viele Generationen weiter und bedienten ein breites Klientel, dem die Möglichkeit fehlte, einen akademischen Arzt aufzusuchen.

Auch diesen Menschen – den Kranken, Betagten, Hilfsbedürftigen – gilt Lobenweins wissenschaftliche Neugierde. Über lange Zeit blieben diese Stimmen ungehört, ihre Vorstellungswelten und Schicksale unsichtbar. Neue Ansätze erlauben Forscher*innen, ihnen Aufmerksamkeit zu geben, indem sie die Quellen „gegen den Strich lesen“. Im Wallfahrtsort Maria Luggau im Gailtal sind über eintausend sogenannte Wunderheilungsberichte aus der Frühen Neuzeit als Handschriften erhalten geblieben. Lobenwein konnte diese im Rahmen ihrer Dissertation nach sozial- und medizinhistorischen Aspekten aufarbeiten und gewann spannende Einsichten in die Lebenswelten der Pilger*innen. Diese diktierten den Klostergeistlichen ihre Lebensgeschichten und Krankheitserfahrungen, beschrieben ihr Schmerzempfinden, und erzählten von bedrohlichen und belastenden Situationen. Die Erlösung vom erlebten Leiden wurde als göttlicher Eingriff interpretiert. Man erfährt, wie Kinder in die landwirtschaftliche Arbeitswelt eingebettet waren, da sie oft in der Ausübung ihrer Aufgaben Verletzungen erlitten. Fast 95 Prozent der chronologisch geordneten Mirakelberichte beinhalten präzise Namens- und Ortsangaben. Personen können somit heute noch über Kirchenbücher, auch Matriken genannt, identifiziert werden. Psychische Erkrankungen oder Fälle von „sündhaftem Leben“ wurden anonymisiert aufgezeichnet, handelte es sich doch dabei um tabuisierte Gegenstandsbereiche. Bei Berichten, in denen Frauen im Mittelpunkt stehen, überwiegt der Themenkomplex Geburt und Schwangerschaft. Dank dieser einzigartigen Quellengattung können wir heute erfahren, wie es einer Bäuerin aus dem Gailtal um 1650 während der Niederkunft erging und welche ihrer Nachbarinnen ihr dabei zur Seite standen.

Einem ähnlichen Ansatz, nämlich der Frage nach den Orten des Alters und der Pflege, widmete sich Lobenwein anlässlich der 500-Jahr-Feier der Stadt Klagenfurt (1518–2018). In ihrem Beitrag zum Sonderheft des Geschichtsvereins für Kärnten (2018) beschreibt sie am Beispiel des Klagenfurter Bürgerspitals, welche Möglichkeiten pflegebedürftige Menschen aus dem Klagenfurter Bürgertum hatten, institutionell untergebracht zu werden. Dafür wurden zahlreiche Bestände auf der Suche nach Quellen zur Institutionsgeschichte und zu den Gründungsstatuten durchforstet. In diesem Zusammenhang dienten sogenannte Supplikationen als besonders reichhaltige frühneuzeitliche Quelle. Bedürftige Personen mussten ein zweiseitiges Schreiben einreichen, in dem sie ihr Leben und ihre soziale Herkunft beschrieben und schilderten, warum sie in Armut geraten sind und sich nicht mehr versorgen konnten. Um argumentativ überzeugen zu können, gaben sie viele Details aus ihrer Lebensgeschichte preis und lieferten damit dichte Beschreibungen vom Dasein eben jener Menschen, die sonst in den Quellen selten sichtbar werden. Auch dieses Beispiel zeigt: Im Kern von Lobenweins Forschungsarbeit liegt eine grundlegende Fragestellung, die uns in jeder Epoche begleitet: Wie gehen wir mit den Schwächsten in unserer Gesellschaft um?

für ad astra: Karen Meehan

Zur Person


Elisabeth Lobenwein forscht und lehrt am Institut für Geschichte. In Osttirol geboren, absolvierte sie die Diplomstudien Geschichte, Englisch und Italienisch (Lehramt) und Anglistik an der Universität Salzburg, wo sie 2011 in Geschichte promovierte. Nach Studien- und Forschungsaufenthalten in Dundee, Rom und Udine sowie beruflichen Stationen an den Universitäten Innsbruck und Salzburg kam sie im Jahr 2017 nach Klagenfurt an die Abteilung für Neuere und Österreichische Geschichte.

Ihre in der Frühen Neuzeit verankerten Forschungsschwerpunkte sind u.a. Kultur- und Sozialgeschichte von Gesundheit und Krankheit, Kulturgeschichte des Politischen, Wissensgeschichte, Selbstzeugnisse, Mentalitäts- und Frömmigkeitsgeschichte.

Lobenwein arbeitet an einer Habilitation zur Kommunikationsgeschichte zwischen dem Osmanischen Reich und der Habsburger Monarchie in der Phase der Zweiten Wiener Belagerung (1683).

Alle Bände der Zeitschrift „VIRUS – Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin“, herausgegeben vom Verein für Sozialgeschichte der Medizin, sind als open access Publikationen abrufbar: https://austriaca.at/virus


Profilbild