„Man macht einen Witz, und hört kein Lachen.“
Die Online-Lehre hat viele Vorteile, aber auch noch entscheidende Schwachstellen. So sind beispielsweise mehr Feedbackkanäle gefragt, sodass die Lehrenden die Stimmung im virtuellen Hörsaal wahrnehmen können. ad astra hat mit Gabriele Kotsis, Professorin für Informatik an der Universität Linz und stellvertretende Universitätsratsvorsitzende der Universität Klagenfurt, darüber gesprochen, wie sehr die Digitalisierung die letzten Monate geprägt hat.
Sie sind Präsidentin der Association for Computing Machinery, der größten Vereinigung von Informatiker*innen, die fast 100.000 Mitglieder weltweit zählt. Welche Rolle haben Videokonferenzen in Ihrem Leben vor dem März 2020 gespielt?
Sie waren auch davor schon sehr wichtig. Einerseits leite ich das Institut für Telekooperation, das heißt, ich habe mich auch in meiner Forschung schon sehr lange mit den technologischen Möglichkeiten beschäftigt, die uns bei der Zusammenarbeit mit anderen unterstützen. Andererseits betrifft das natürlich auch meine Arbeitsorganisation: Meine Scientific Community ist weltweit vernetzt, daher war es auch schon früher gang und gäbe, hie und da Videokonferenzen abzuhalten. Man muss aber auch feststellen: Die Technologie funktioniert erst seit einigen Jahren wirklich gut.
Angenommen die Online-Meetings bleiben uns langfristig, was Vorteile für Kohlendioxidbilanzen und unser Zeitkonto hätte. Was wird uns fehlen?
Ein Beispiel sind die Zwischengespräche. Ich kann online bei einer Konferenz nur schwer ein paar Worte mit meiner Sitznachbarin tratschen oder beim Kaffee zusammenstehen. Das fehlt uns deshalb, weil Videokonferenztechnologien nur einen Teil der Kommunikation ersetzen. Es gibt zwar Breakout-Rooms, aber sie sind unzureichend. Auch die nonverbale Kommunikation, also Körpersprache und Mimik, fehlen, wenn wir auf Briefmarkengröße zusammenschrumpfen. Bei der textbasierten Kommunikation nutzen wir die Emoticons, um zwischen den Zeilen zu kommunizieren. Solche Werkzeuge brauchen wir bei den Videomeetings noch.
Werden wir dann ohne physische Meetings auskommen?
Das glaube ich nicht. Im letzten Jahr musste ich beispielsweise auch meine Mitarbeiter*innengespräche online führen. Wenn es um heikle Themen geht, ist das nicht optimal.
Es wird also vermehrt beides geben, oder?
Ja, und in der Verknüpfung, in den so genannten Hybriden, steckt auch eine große Herausforderung. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass große Konferenzen weltweit an verschiedenen Stationen real stattfinden und digital miteinander verknüpft werden. Vieles, was wissenschaftliche Konferenzen ausmacht, lässt sich online schlecht abbilden, zum Beispiel Posterpräsentationen oder Produktdemos von Unternehmen. Auch einem Online-Bücherstand mangelt es an Haptischem. Und natürlich die Social Events: Das Zuprosten am Abend in Zoom ersetzt nicht das Original.
Die medizinische Forschung hat in vielen Bereichen seit Beginn der Pandemie eine starke Beschleunigung erlebt. Ist das in Ihrem Forschungsfeld auch so?
Es ist bei uns weniger so, dass neue Methoden entwickelt wurden, aber es haben sich neue Anwendungsfelder ergeben. Denken Sie zum Beispiel an die Prognosen der epidemiologischen Entwicklung, die mathematische Modelle und informatische Rechenleistung im Hintergrund haben. Schon vorher waren viele in dem Feld aktiv; und ich denke, wir sind für die Zukunft gut gerüstet.
In anderen Bereichen, wie der digitalen Lehre, war man vor dem März 2020 sowohl an Schulen als auch an Hochschulen nicht optimal gerüstet. Was können Universitäten leisten, um die Digitalisierung im Bildungsbereich zu unterstützen bzw. voran zu bringen?
Bei vielen im Schulsystem mangelt es an Kenntnissen, die wir auch als Universitäten in Form von Fortbildung voranbringen können. Etwas anderes ist der Faktor Zeit, der uns auch als Expert*innen kalt erwischt hat. Der Aufwand für eine gute Online-Vorlesung ist wesentlich höher als für die – bereits eintrainierte – Präsenzlehre. Nichts ist langweiliger als eineinhalb Stunden einer Person zuzuschauen, die in einem kleinen Videobild vor statischen Folien steht.
Wie kann man die Online-Lehre spannender machen?
Wir brauchen andere interaktive Formate als im physischen Hörsaal. Wir müssen die Information in kleinere Häppchen zerlegen. Insgesamt muss ich mir neue Techniken erarbeiten, wie ich die Aufmerksamkeit meiner Studierenden erhalte. Vor dem Hintergrund dieses Aufwandes muss ich vielleicht Lehre generell neu strukturieren: Manchmal ist es sinnvoller, weniger Stunden zu unterrichten, dafür in Summe mehr Studierende in den virtuellen Hörsaal einzulassen. An anderer Stelle braucht es dann aber andere kleinstrukturiertere Begegnungs- und gemeinsame Arbeitsmöglichkeiten.
Welchen Eindruck haben Sie von Ihren Studierenden?
Das ist sehr unterschiedlich. Vereinfacht gesagt: Die einen sind immer schon gewohnt, eigenständig zu arbeiten, und sie profitieren vor allem von der stärkeren zeitlichen Flexibilität. Anderen fällt es schwer, auf diesem Weg zu lernen. Für mich als Lehrende ist es schwer zu erkennen, wem es gerade wie ergeht. Das funktioniert im Seminarraum oder im Hörsaal deutlich besser. Die Informatik kann das für uns aber erleichtern. So gibt es Technologien, die mit Künstlicher Intelligenz das Lernverhalten und den Lernerfolg beobachten und daran angepasst Lerninhalte präsentieren. Das System lernt den jeweiligen Lerntypen kennen und bietet ihm oder ihr Pfade, die individuell besser passen. Daraus könnte sich auch ein Mehrwert für die Studierenden ergeben.
Und wie individuell sind die Prüfungen?
Meiner Wahrnehmung nach hat das Prüfen im letzten Jahr am schlechtesten funktioniert. Am einfachsten waren dabei noch einfache Online-Meetings mit Video, die mündliche Prüfungen ersetzten. Anderswo muss man neue Wege gehen: So habe ich zum Beispiel bei meiner großen Vorlesung am Ende ein Beispiel vorgegeben, das die Studierenden in Ruhe zuhause ausarbeiten konnten. Ich musste letztlich zwar rund 150 kurze Seminararbeiten lesen, aber in Summe habe ich mich damit wohler gefühlt.
Sei es der Hörsaal, ein Klassenraum oder ein Konzertsaal – Bühnen und Publikumsräume sind in vielen Berufsgruppen präsent. Viele sehnen sich nach der realen Konstellation. Warum funktioniert die Online-Bühne so viel schlechter?
Weil die Feedbackkanäle fehlen. Wenn man digital eine große Vorlesung hält, haben alle Studierenden Ton und Bild abgeschaltet. Man macht einen Witz, und hört kein Lachen. Nur wenige trauen sich, Chat-Nachrichten zu schicken. Ich sehe nicht, wenn Ungeduld aufkommt. Es fehlen die technischen Möglichkeiten, die einem das Gefühl der Bühne geben. So ist das meiner Wahrnehmung nach heuer auch den Musiker*innen beim Neujahrskonzert gegangen.
Haben Sie Ideen für technische Lösungen?
Man könnte mit einfachen Klicks niederschwelliges Feedback der Zuhörenden ermöglichen. Bei einer Vorlesung könnte man auf einzelne Begriffe der Präsentationsseiten klicken, sodass ich als Lehrende weiß, was nicht verstanden wurde. Wir sollten auch mehr Sinne ansprechen. Man könnte beispielsweise ein Murren oder ein Klatschen aus dem Publikum einspielen. Was zu Beginn irritierend scheint, könnte das Erlebnis für alle verbessern.
Vielerorts, wie an Schulen oder Universitäten, war man zur Umstellung auf das Digitale gezwungen. Andernorts, nennen wir staatliche Behörden als Beispiel, ist der Digitalisierungsschub eher milde ausgefallen. So hantieren Gesundheitsämter vielfach noch immer mit händisch ausgefüllten Formularen und beklagen mangelnde Serverkapazitäten, um Daten zu melden. Warum ist das so?
Es reden momentan zwar alle von Digitalisierung, vielfach fehlen uns aber die Informatiker*innen. Wir müssen mehr junge Menschen in dem Bereich an den Universitäten ausbilden. Benötigt werden nicht nur HTL-Absolvent*innen, die programmieren können, sondern wir brauchen mehr Kompetenzen. Man muss viel über Mensch-Maschine-Kommunikation wissen und man muss Prozesse verstehen. Außerdem fehlt es an Geld. Wenn Technologie gut funktioniert, wirkt sie für den Anwender simpel. Wir sind verwöhnt von sehr gut performenden Seiten wie Google und Amazon, die selbst mein 97-jähriger Vater mühelos bedienen kann. An anderen Stellen werden die Bedürfnisse der Anwender*innen vielfach missachtet. Es wird nicht genug Geld investiert: Für 100.000,- EUR bekommt man leider keine bessere Handelsplattform als das Kaufhaus Österreich.
Informatiker*innen werden ja auch selten Staatsbedienstete, weil andernorts die lukrativeren Jobs locken.
Ja, auch hier scheitert es am Geld.
Vielleicht lädt die aktuelle Krise mehr junge Menschen dazu ein, sich für das Informatikstudium zu entscheiden.
Das wäre schön. Sie werden nämlich gebraucht, heute mehr denn je.
für ad astra: Romy Müller
Zur Person
Gabriele Kotsis absolvierte ihr Doktoratsstudium der Informatik an der Universität Wien, wo sie auch als Universitätsassistentin sowie als Assistenzprofessorin tätig war. 2000 erlangte sie die Venia Docendi in Computer Science an der Universität Wien. Gastprofessuren führten sie an die Wirtschaftsuniversität Wien sowie an die Copenhagen Business School. Seit 2002 ist sie Professorin für Informatik an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Von 2007 bis 2015 war sie dort Vizerektorin für Forschung, und in dieser Rolle auch langjährige Vorsitzende des „Forum Forschung“ der Österreichischen Universitätenkonferenz (uniko). Seit 2016 ist Gabriele Kotsis Mitglied, seit 2018 auch stellvertretende Vorsitzende des Universitätsrats der Universität Klagenfurt. Seit Juli 2020 ist sie Präsidentin der Association for Computing Machinery (ACM), die unter anderem für die Vergabe des Turing Award bekannt ist.