„Man kann sich eine Gesellschaft vorstellen, in der sich die Menschen praktisch niemals von Angesicht zu Angesicht sehen“

Als Karl Popper in den frühen 1940er-Jahren über die Gefahren für die Demokratie nachdachte, entwickelte er die Vorstellung einer abstrakten Gesellschaft. Seine Überlegungen machen heute auf die politischen Risiken für eine Gesellschaft im Lockdown aufmerksam. Thomas Hainscho, der das Karl Popper Copyright Office leitet und gemeinsam mit Nicole Sager die Karl-Popper-Sammlung in der Universitätsbibliothek betreut, hat die aktuellen Bezüge in einem Text zusammengefasst.

Das Ehepaar Karl und Hennie Popper überlebte den Zweiten Weltkrieg als Flüchtlinge im neuseeländischen Exil. Popper verfasste dort das zweibändige Werk zur politischen Philosophie Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Die zentrale Eigenschaft einer offenen Gesellschaft ist, dass die herrschende Instanz ohne physische Gewalt abgelöst werden kann. Popper richtet sich damit gegen Totalitarismus, Unterdrückung und Gewalt und spricht sich für Demokratie und Freiheit aus.

Im titelgebenden zehnten Kapitel des ersten Bands beschreibt Popper Phänomene, die in einer offenen Gesellschaft auftreten können:

Man kann sich eine Gesellschaft vorstellen, in der sich die Menschen praktisch niemals von Angesicht zu Angesicht sehen, in der alle Geschäfte von isolierten Individuen ausgeführt werden, die sich durch maschinengeschriebene Briefe oder durch Telegramme verständigen und die sich in geschlossenen Kraftfahrzeugen umherbewegen. (Künstliche Befruchtung würde sogar die Fortpflanzung ohne persönlichen Kontakt ermöglichen.) Eine solche fiktive Gesellschaft könnte man eine ›vollständig abstrakte oder entpersönlichte Gesellschaft‹ nennen.

Neben den Begriffen der offenen und der geschlossenen Gesellschaft führt Popper hier auch die abstrakte Gesellschaft ein. Menschen gehen darin keine persönlichen Beziehungen ein. Die Mitglieder einer abstrakten Gesellschaft arbeiten alleine und leben isoliert von den anderen Individuen. Dadurch, so Popper, blieben soziale Bedürfnisse unbefriedigt und Anonymität und Isoliertheit führen zum Unglücklichsein.

Die abstrakte Gesellschaft stellt für Popper einen Idealtyp dar, das heißt die tatsächlich beobachtbaren Gesellschaftsordnungen sind mit ihr niemals vollständig identisch, aber es bestehen Ähnlichkeiten. So sei auch die moderne Gesellschaft einer „abstrakten Gesellschaft in vielerlei Hinsicht ähnlich“, wie Popper schreibt. Ungewollt erinnert die Beschreibung der abstrakten Gesellschaft an die Zeit der Pandemie und des Lockdowns. Aufgrund dieser Ähnlichkeit lässt sich bei Popper auch nachlesen, worin das politische Risiko für eine Gesellschaft im Lockdown besteht. In einer abstrakten Gesellschaft brauche etwa „die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft nicht mehr zu bedeuten als den Besitz einer Mitgliedskarte und die Bezahlung eines Beitrags an einen unbekannten Sekretär.“

Ich denke nicht, dass das soziale Risiko, auf das Popper bei der abstrakten Gesellschaft eingeht – isolierte Menschen werden notwendig unglücklich – während des Lockdowns so stark ausgeprägt war. Viele Menschen waren einsam aber die Kommunikation mit den modernen Entsprechungen von Briefen oder Telegrammen konnte dem entgegenwirken. Seine Überlegungen machen jedoch auch ein politisches Risiko aufmerksam: Zu einer prosperierenden Demokratie gehören Prozesse, die während des Lockdowns nicht möglich waren: gewollte und ungewollte soziale Kontakte, ein konfrontativer Diskurs mit verschiedenen politischen Meinungen. Eine Entpersonalisierung von demokratischen Prozessen kann dazu führen, dass der „Besitz einer Mitgliedskarte“ als ein politischer Akt missverstanden wird. Entpersonalisierte Vorgänge werden so zu politischen Ersatzhandlungen. Eine politische Wirkung ist dabei oft geringer oder gar nicht vorhanden. Das Internet stellt eine Analogie dazu dar: Online-Petitionen, aktivistische Avatare, Kommentare, Likes, Thumbs-Ups und -Downs machen Meinungen sichtbar, können aber kein dauerhafter Ersatz für einen politischen Diskurs sein. Auch wenn politische Veränderung durch Online-Aktivismus angestachelt werden kann, soll ein politischer Diskurs letztendlich in den Gesetzen münden und nicht im Internet viral gehen. Wenn sich politisches Handeln in Online-Aktivismus erschöpft, besteht die Gefahr, dass vom Wunsch nach sozialen Veränderungen einmal nur alte Profilbilder übrig bleiben werden.

Popper wird häufig als Vorreiter des Neoliberalismus bezeichnet, der mit Schlagworten wie Individualismus und individuelle Freiheit gegen eine totalitäre Kontrolle des Staates vorgeht. Solche Schlagworte werden auch gegenwärtig ins Rennen gebracht, etwa: Darf mir der Staat vorschreiben, eine Maske tragen zu müssen? – Nein, weil das meine Freiheit einschränkt. Der politische Diskus einer offenen Gesellschaft muss nach Popper aber nicht bedeuten, dass die individuelle Freiheit über alles zu stellen ist. Insofern lassen sich in Poppers politischer Philosophie auch kaum Argumente gegen das staatliche Eingreifen zum Wohl der Gesundheit finden. Für Popper soll das eigene Handeln in einer offenen Gesellschaft durch Vernunft und Verantwortung gegenüber anderen bestimmt sein. So ist es auch kein Merkmal von Freiheit, auf das Tragen eines Mundschutzes zu verzichten, wenn kein Gesetz mehr dazu verpflichtet. In der Freiheit in einer offenen Gesellschaft liegt auch eine Pflicht. Sie besteht darin, abwägen zu müssen, was für das eigene Handeln vernünftig ist, sodass die Freiheit und Gesundheit der anderen gewahrt bleibt.

Karl-Popper-Sammlung begeht 2020 ihr 25-jähriges Jubiläum

1995, ein Jahr nach Poppers Tod, wurde seine Arbeitsbibliothek inklusive Kopien seiner Korrespondenzen, Manuskripte und Notizen aus Mitteln von Land und Bund der Universität Klagenfurt zu ihrem 25-jährigen Bestehen geschenkt. In den folgenden Jahren wurde der Bestand katalogisiert und 2001 als Forschungsarchiv im Lesesaal der Universitätsbibliothek eröffnet. In ihrem 25- jährigen Bestehen besuchten zahlreiche internationale Forscher*innen die Karl-Popper-Sammlung, um am Nachlass zu arbeiten, sowie mehrere persönliche Verwandte und Bekannte der Familie Popper.

Seit 2008 ist die Universität Klagenfurt im Besitz der Verwertungsrechte am intellektuellen Werk Karl Poppers. Das seit 2008 bestehende Copyright Office stellt die Anlaufstelle für weltweite verlegerische Anliegen zu Poppers Werk dar. Innerhalb der letzten Jahre (2018 bis 2020) wurden in Zusammenarbeit mit der Universität Klagenfurt mehrere bislang unveröffentlichte Aufsätze von Popper veröffentlicht, editierte Briefwechsel herausgegeben, neue Übersetzungen auf Arabisch, Deutsch, Französisch, Portugiesisch, Griechisch, Spanisch und Schwedisch publiziert sowie zahlreiche Bücher in verschiedenen Sprachen neu aufgelegt. Die Sammlung wird um diese Bücher beständig erweitert, führt eine umfangreiche Personalbibliographie und unterstützt die Karl-Popper-Foundation bei Veranstaltungen.

Besondere Stücke der Sammlung werden in den Vitrinen präsentiert. Kurz vor den Lockdown-Maßnahmen im März wurde das im Jänner 2020 der Universität Klagenfurt geschenkte Wandkästchen, das Karl Popper 1924 zu seiner Gesellenprüfung als Tischer entwarf und anfertigte, mit aufbereitetem Begleitmaterial ausgestellt.

Die Karl-Popper-Sammlung kann nach Voranmeldung besucht werden.

Weitere Informationen auf der AAU-Website:

https://www.aau.at/universitaetsbibliothek-klagenfurt/karl-popper-sammlung/

Kontaktpersonen für Anfragen:

Dr. Thomas Hainscho und Mag.a Nicole Sager, popper [dot] bibliothek [at] aau [dot] at

Zum Autor

Thomas Hainscho studierte Philosophie und Informatik an der Universität Klagenfurt. Als Mitarbeiter in der Bibliothek leitet er seit 2020 das Karl Popper Copyright Office und betreut gemeinsam mit Nicole Sager die Karl-Popper-Sammlung. Als Lehrbeauftragter unterrichtet er am Institut für Philosophie.

Thomas Hainscho