Lohn statt Taschengeld: Menschen mit Lernschwierigkeiten ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Institutionen ermöglichen
In Österreich ist die UN-Behindertenrechtskonvention seit Oktober 2008 in Kraft. Die Übereinkunft sieht vor, dass alle Menschen frei in der Wahl ihres Wohn- und Aufenthaltsortes sind. Menschen mit Lernschwierigkeiten, die also mit intellektuellen Beeinträchtigungen leben, werden hierzulande aber häufig in Einrichtungen untergebracht, ob sie das wollen oder nicht. Eine Forschungsgruppe an der Universität Klagenfurt wirft einen kritischen Blick auf diese Institutionalisierung. Mit zwei Projekten in Kärnten erlangen Menschen mit Lernschwierigkeiten nun schon deutlich mehr Unabhängigkeit. Die Projekte, sowie weitere Forschungsarbeiten, unter anderem aus dem Bereich der Wohnungslosenhilfe und zum Thema Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, werden im Rahmen des Sozialpädagogischen Fachtags am 24. Juni 2022 an der Universität Klagenfurt vorgestellt.
Ernst Kočnik forscht und lehrt im Arbeitsbereich „Sozialpädagogik und Inklusionsforschung“. Gleichzeitig ist er Obmann des Beratungs-, Mobilitäts- und Kompetenzzentrum (BMKz). Mit dem BMKz wurde er seitens des Landes mit der Umsetzung zweier Maßnahmen des Kärntner Landesetappenplans betraut, bei denen es darum geht, Menschen mit Lernschwierigkeiten auch Optionen eines Lebens außerhalb von Institutionen zu eröffnen.
Im Projekt „Mensch zuerst Kärnten“ geht es darum, erstmals in Kärnten eine unabhängige Selbstvertretung für Menschen mit Lernschwierigkeiten aufzubauen. „Üblicherweise bekommen Menschen mit Lernschwierigkeiten für ihre Arbeit in Behindertenwerkstätten ein Taschengeld von 20 bis 40 EUR im Monat. Bei unserem Projekt sind hingegen drei, später vier, Personen in einem sozialversicherungsrechtlichen Dienstverhältnis mit 19 Wochenstunden pro Person angestellt. Sie wurden in den letzten zwei Jahren ausgebildet, um in Zukunft die Rechte von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu vertreten. Unser Ziel ist es, dass diese Personen dann in Einrichtungen gehen, um dort den Betroffenen die Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens – mit Unterstützungsleistungen – aufzuzeigen“, erklärt Ernst Kočnik. Ein anderes Projekt mit dem Titel „Persönliche Assistenz inklusiv“ bietet Menschen mit Lernschwierigkeiten eine Ausbildung, mit der sie später als persönliche Assistent*innen von Senior*innen arbeiten können. Damit soll erreicht werden, dass ältere Menschen länger in den eigenen vier Wänden bleiben können und erst, wenn pflegerische Leistungen notwendig werden, zusätzliche Hilfe brauchen. Auch in diesem Projekt sind die zukünftigen Assistent*innen regulär angestellt. Ernst Kočnik erläutert: „In Summe geht es uns um ‚Lohn statt Taschengeld‘. Wir wollen deutlich machen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten eigenständig leben können. Der Aspekt der De-Institutionalisierung ist uns sehr wichtig.“
Das Thema „De-Institutionalisierung. Menschrechtsbasierte Praxis oder strukturelle Exklusion?“ steht auch im Zentrum des Sozialpädagogischen Fachtags, der – organisiert von Marion Sigot, Rahel More und Ernst Kočnik – am 24. Juni 2022 von 9:00 bis 15:00 Uhr im Raum z.109 an der Universität Klagenfurt stattfindet. Neben der Vorstellung dieser beiden Projekte durch Rafael Blaschun, Hubert Raunjak, Daniel Voith, Nicole Goritschnig und Fabienne Pirker werden Petra Flieger (freischaffende Wissenschaftlerin), Marc Diebäcker (FH Campus Wien) sowie Volker Schönwiese (ehem. Universität Innsbruck) und das Veranstaltungsteam auf die wissenschaftliche Debatte sowie Forschungsperspektiven zur De-Institutionalisierung eingehen.