Buchhaltestelle| Foto: aau/Barbara Maier

Lesen und Leben

Gute Bücher lesen und gemeinsam darüber reden, ist die Intention von privaten Leserunden. Erstmalig werden in einem FWF-Forschungsprojekt die Praxis von nicht öffentlicher Lese- und Kritiklust und der Wert des Lesens untersucht.

Frau Moser, woher kommt die Idee der Leserunden und wie ist die Zusammensetzung?
Reading Groups kommen aus dem englischsprachigen Raum, werden aber im deutschsprachigen zunehmend populär. Die Personen sind tendenziell eher älter, also um Mitte 40 aufwärts, und es herrscht ein eklatanter Frauenüberschuss – wie insgesamt in der literarischen Leserschaft. Alle besitzen eine solide literarische Bildung aus der Schulzeit oder stammen aus einem literaturaffinen Elternhaus. Die meisten sind VielleserInnen, kommen also auf 18 oder mehr Bücher pro Jahr.

Was sind die Motive für den doch aufwendigen Literaturdiskurs in der Gemeinschaft?
Die Motive sind vielfältig und je nach Gruppe unterschiedlich. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten, etwa die Integration von Bildungs- und Unterhaltungsaspekten. Das erste intime Lesen wird durch das Gespräch im Kreis vertieft, und man lernt Literatur kennen, auf die man allein nicht gestoßen wäre. Das Sprechen über Gelesenes verändert auch den Leseprozess. Es wird genauer gelesen und mehr reflektiert. Dazu kommt die soziale Komponente – gute Gespräche, gutes Essen, guter Wein. Fast so, wie man sich die Alt-Wiener literarischen Salons von Fanny von Arnstein oder Berta Zuckerkandl vorstellt, nur ohne Autorenbeteiligung. Für den Bildungsaspekt ist also die Literatur zuständig, das Unterhaltende soll das Gespräch in angenehmer Atmosphäre bieten.

Lassen sich Muster und Vorlieben für die Buchauswahl erkennen?
Für den Auswahlprozess nehmen die Gruppen sich ausgiebig Zeit, denn er hat eine wichtige Orientierungsfunktion: Welche der zirka 30.000 literarischen Neuerscheinungen pro Jahr lohnt eine Lektüre? Auf ihren Leselisten findet man zu 80 Prozent Werke renommierter AutorInnen oder so genannter Shooting Stars, also literarisch anspruchsvolle Bücher. Der Literaturbetrieb beeinflusst diese Entscheidung durch die Berichterstattung über Literaturpreise, Gedenktage und Neuerscheinungen. Viel wichtiger aber ist der Multiplikatoreffekt, also das Urteil eines Menschen, dem man vertraut, der guten Buchhändlerin etwa.

Wie funktioniert nun dieser Austausch?
Die Diskussionsrunden sind lebendig, mitunter kontrovers in der Ausführung und zugleich traditionell im Anspruch. Es geht um die allmähliche Verfertigung von Bedeutungen durch das Gespräch. Im 19. Jahrhundert hat Heinrich von Kleistempfohlen, über Dinge zu reden, mit denen man nicht zurande kommt. Ebenfalls aus dieser Zeit stammt die Vorstellung, dass Lesen ein Gespräch des Lesers mit dem Text sei. Die heutigen Lesegruppen führen genauso ein Gespräch über dieses (Ur-)Gespräch, und sie versuchen Fragen zu beantworten wie: Was habe ich da gelesen? Warum ist das so eine schreckliche Figur? Warum irritiert mich die Sprache und dir gefällt sie? … Gespräche bieten eine Möglichkeit die Irritationen in den Griff zu bekommen, die Literatur ihren LeserInnen wohl immer beschert.

für ad astra: Barbara Maier

Doris Moser

Doris Moser

Doris Moser ist als Literaturwissenschaftlerin am Institut für Germanistik verantwortlich
für den Bereich Angewandte Germanistik. Sie war zuvor Kulturjournalistin und Bachmann-Preis-Organisatorin. Sie ist Mitherausgeberin der Werke Christine Lavants.

FWF-Projekt Negotiating Literarcy Meaning



Am FWF-Projekt „Negotiating Literary Meaning. Communication in Face-to-Face and Online Reading Communities“ beteiligen sich weiters Gerda Elisabeth Moser, Katharina Perschak und Claudia Dürr.