Le Choix Goncourt de l’Autriche: Jede Sprache ist der Schlüssel zu einem literarischen Kosmos
Der „Prix Goncourt“ ist Frankreichs renommiertester Literaturpreis – verliehen wird er jedes Jahr im Herbst von der Académie Goncourt, die damit die besten neuen französischsprachigen Bücher in den Kategorien Roman, Lyrik, Debütroman, Kurzgeschichte und Biografie prämiert. Seit 2020 findet in Österreich der zugehörige „Choix Goncourt à l’étranger“ statt: 30 Studierende der Universitäten Wien, Graz, Innsbruck, Salzburg und Klagenfurt bilden eine Jury, analysieren die vier Werke, die sich im Vorjahr in der Endauswahl befanden und küren ihren eigenen Gewinner. Darüber hinaus reichen sie eine schriftliche Rezension ein – die besten Rezensionen werden von der Académie Goncourt prämiert. Die diesjährige Jury des „Choix Goncourt de l’Autriche“ traf sich am 15. März 2022 in der Mediathek des Institut français in Wien und diskutierte die Romane in Anwesenheit von Hervé Le Tellier, dem Gewinner des Prix Goncourt 2020 sowie des Choix Goncourt de l‘Autriche 2021 für „L’anomalie“, und Françoise Rossinot, Hauptvertreterin der Académie Goncourt.
Elisabeth Peutz war mit dabei – sie studiert Romanistik an der Universität Klagenfurt und wurde nun für ihre hervorragende Literaturkritik von der Académie Goncourt ausgezeichnet. Im Interview erzählt sie, welche Erfahrungen sie beim „Choix Goncourt de l’Autriche“ gemacht hat.
Wie kam es zu deiner Teilnahme am „Choix Goncourt de l‘Autriche“?
Ich habe den Kurs „Club de Lecture“, den Monsieur Luc Bousseau regelmäßig anbietet, besucht. In diesem Kurs geht es darum, die vier Bücher, die für den Prix Goncourt in der Endauswahl stehen, zu lesen, sich darüber auszutauschen und einen Favoriten zu wählen. Dasselbe tun auch Studierende der Romanistikinstitute der Universitäten Wien, Graz, Salzburg und Innsbruck. Im Rahmen der Lehrveranstaltung reisen die Teilnehmer*innen nach Wien, wo es ein Treffen im Institut français d’Autriche gibt, bei dem je ein*e Vertreter*in den jeweiligen Favoriten des Kurses bei einer Podiumsdiskussion verteidigen muss. Heuer und auch im Vorjahr kamen die Studierenden und das Publikum zum selben Ergebnis wie die Académie Goncourt. Aber das ist nicht immer der Fall.
Choix Goncourt und Prix Goncourt – wie hängen diese beiden zusammen?
Bei der Wahl der Studierenden, dem Choix Goncourt, geht es um die vier Finalisten der Wahl des Prix Goncourt, die kurz vor der Preisvergabe durch die Jury der Académie Goncourt ausgewählt wurden. Wer den Preis letztendlich gewonnen hat, ist zum Zeitpunkt des Choix Goncourt also bereits bekannt. Die Juroren der Académie lesen vorher monatelang, um sich dann zunächst auf 16 Bücher zu einigen, daraus dann acht zu wählen, anschließend vier Finalisten festzulegen und schließlich einen lauréat zu küren. Der Träger des Prix Goncourt würde selbst dann derselbe bleiben, wenn alle Welt eine andere Entscheidung fällte. „Alle Welt“, weil es den „Choix Goncourt à l’étranger“ derzeit in 30 Ländern gibt.
Wie lief die Veranstaltung ab und wie hast du sie erlebt?
Die Veranstaltung im Institut Français de l’Autriche ist sehr spannend und sehr bereichernd. Dort diskutieren Studierende über die vier Bücher. In diesem Jahr waren es:
- Mohamed Mbougar Sarr „La Plus Secrète Mémoire des hommes“ (dt. Das geheimste Gedächtnis der Menschheit) – meiner Ansicht nach ein großartiges Buch mit enormer poetischer Kraft!
- Sorj Chalandon „Enfant de salaud“ (dt. Kind eines Dreckskerls) – Ein außerordentlich lesenswertes und beeindruckendes Buch, unser zweiter Favorit.
- Louis-Philippe Dalembert „Milwaukee Blues“ – Ein wichtiges Buch, das eine politische Message hat. Literarisch kommt es nach meinem Dafürhalten nach aber nicht an die ersten beiden heran.
- Christine Angot „Le Voyage dans l’Est“ (dt. Die Reise nach Osten). Das Buch war nicht mein Fall.
Nicht alle Uni-Teams haben denselben Favoriten. Es geht also darum, so geschickt zu argumentieren, dass der eigene Favorit am Ende gewählt wird. An der Wahl beteiligen sich auch die Zuhörer. Selbstverständlich findet die Diskussion in französischer Sprache statt.
Absolut großartig ist, dass auch Mitglieder der Académie Goncourt zu dieser Veranstaltung eigens aus Paris nach Wien reisen. In diesem Jahr war sogar Hervé le Tellier, der Gewinner des Prix Goncourt 2020 dabei. Er ist nicht nur ein genialer Schriftsteller, sondern auch aktueller Präsident von Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle). Mit größter Geduld, erlesener Freundlichkeit und sehr viel Humor hat er alle unsere Fragen beantwortet.
Ist man nicht ohnehin schon voreingenommen, da der Gewinner ja bereits feststeht und durch eine Fachjury gewählt wurde? Wie seid ihr zu der Entscheidung gekommen?
Man ist schon ziemlich präpotent, wenn man selbst Jury spielt. Aber ich bin überzeugt davon, dass keine(r) der Studierenden glaubt, sich mit den Juroren messen zu können, die das Spiel übrigens erfunden haben. Als hätten sie nicht Wichtigeres zu tun, lesen sie dann auch noch unsere Kritiken. Chapeau!
Die Wahl ist geheim. Aber vorher präsentiert jeweils ein*e Vertreter*in der Romanistikinstitute den Favoriten der jeweiligen Uni. Insofern liegen die Karten auf dem Tisch. Dann werden sie ein bisschen gemischt und es geht darum, den entscheidenden Stich zu machen.
Hat man die Wahl, für welches Werk man seine Rezension einreicht oder muss es automatisch die Rezension für das Gewinnerwerk des Prix Goncourt sein?
Die Rezension schreibt man über das Werk, das die Wahl der Österreicher gewonnen hat.
Gab es etwas, was dich besonders beeindruckt hat? Was fandest du besonders herausfordernd oder spannend?
Die Bücher von Mohamed Mbougar Sarr und Sorj Chalandon haben mich besonders beeindruckt und vor allem auch das Gespräch mit Hervé le Tellier, dessen Buch „L’anomalie“ meiner Ansicht nach auch absolut großartig ist. Ich finde es außerdem wunderbar, Bücher in der Originalsprache zu lesen. Hut ab vor allen (guten) literarischen Übersetzern, aber ein Kunstwerk – und ein gutes Buch ist ein Sprachkunstwerk – ist ungefiltert viel authentischer. Jede Sprache ist der Schlüssel zu einem literarischen Kosmos.
Ist mit der Ehrung deiner Rezension eine Zeremonie/ein Preis (Urkundenvergabe, Preisgeld o.ä.) verbunden gewesen?
Nein. Kein Preisgeld, aber darum ging es ja nicht. Im Vorjahr wäre damit eine Reise nach Paris verbunden gewesen und die Möglichkeit, am 3. November bei der Bekanntgabe des Prix Goncourt im Restaurant Drouant, dem Stammlokal der Juroren in Paris, dabei zu sein. Dazu wurden heuer die Studierenden aus Indien, dem Libanon, Griechenland und Großbritannien eingeladen. Es sei ihnen auf jeden Fall vergönnt!
Könntest du dir vorstellen professionelle Literaturkritikerin zu werden?
Nein.
Was nimmst du für dich nun nach der Veranstaltung mit?
Wertvolle Erkenntnisse – wie übrigens auch von anderen Veranstaltungen, bei denen man die Gelegenheit hat, mit Schriftstellern von Weltrang in unmittelbaren Kontakt zu treten, was am Romanistik-Institut der Universität Klagenfurt immer wieder möglich ist. Heuer war beispielsweise ein weiterer Träger des Prix Goncourt in Klagenfurt zu Gast: Cristina Gavagnin hat es geschafft, Mathias Énard einzuladen, Martina Meidl und Virginie Leclerc haben ihn fachkundig befragt und damit präsentiert, ehe er sich vom Publikum hat ausquetschen lassen. Weltliteratur à la carte. Magnifique.