Klassifikationen, Algorithmen und der Staat: Ein Feldforschungsbericht zu digitaler Wohlfahrtsinfrastruktur in Kolumbien (von Julia Malik)
Für ihr Dissertationsprojekt führte die Universitätsassistentin Julia Malik 13 Monate Feldforschung in Kolumbien durch. Dort untersuchte sie die soziotechnischen Dimensionen und Auswirkungen eines digitalen staatlichen Klassifikations- und Informationssystems, das zur Verwaltung und Verteilung von Sozialleistungen verwendet wird.
Wie formen Technologien und Praktiken der digitalen Wohlfahrt den Staat?
Wie werden digitalisierte Systeme im Bereich der Sozialpolitik hergestellt und welche Akteur:innen nehmen wie daran teil?
Welche Auswirkungen haben Klassifikationen, Algorithmen, und Datafizierung auf Sozialhilfe, Bürokratie, staatliche Institutionen und Interaktionen zwischen Staatsangestellten und anderen Bürger:innen?
Diesen Fragen ging Julia Malik im Rahmen ihrer multilokalen ethnographischen Feldforschung für ihre Dissertation mit dem Arbeitstitel „Classifying Citizens, Updating the State: How Practicing Digital Welfare Shape Statehood in Colombia“ nach. Unterstützt durch ein Marietta-Blau Stipendium des österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie durch eine Mobilitätsförderung für Nachwuchswissenschaftler:innen der Universität Klagenfurt erforschte sie das digitalisierte Klassifikations- und Informationssystem SISBÉN. Der kolumbianische Staat verwendet dieses System, um Haushalte sozioökonomisch zu kategorisieren und, darauf aufbauend, den Zugang zu Sozialleistungen zu regeln. Julia Malik folgte den unterschiedlichen Akteur:innen und Elementen des Systems, das unter anderem aus einem standardisierten digitalen Fragebogen, Haushaltsbesuchen von Verwaltungsmitarbeitenden, einem zentralisierten Datenbanksystem, verschiedenen Software-Programmen zur Bearbeitung von Informationen, und Algorithmen zur Berechnung der Klassifikation der Haushalte besteht.
Um die Effekte von digitaler Wohlfahrtsinfrastruktur auf den Staat zu erfassen, forschte Julia Malik in staatlichen Institutionen, die in das SISBÉN-System eingebunden sind. Ihre Forschungspartner:innen waren öffentliche oder private Bedienstete, die mit SISBÉN arbeiteten, aber auch klassifizierte Bürger:innen sowie Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen und Anwält:innen, die sich mit SISBÉN befassten. Den Hauptteil ihrer Feldforschung unternahm sie in nationalen und kommunalen Behörden in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá. Diese Erfahrungen ergänzte sie mit Forschungsaufenthalten in einer mittelgroßen Stadt und zwei kleinen, ländlichen Gemeinden. Sie führte teilnehmende Beobachtung bei Arbeitsmeetings, Einschulungen, Büroarbeiten, Bürger:innen-Servicestellen durch, und begleitete SISBÉN-Mitarbeitende zu Hausbesuchen und Klassifikationsinterviews. Daneben führte sie 42 qualitative Interviews und analysierte Regierungsveröffentlichungen und Medienberichte. Die institutionelle Anbindung an die Universidad del Rosario in Bogotá ermöglichte eine Unterstützung und Begleitung der empirischen Forschungsarbeit sowie den Kontaktaufbau mit lokalen Wissenschaftler:innen.
Mit dem so produzierten Datenmaterial untersucht Julia Malik die Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung, Wohlfahrt und Staat. Das Klassifikations- und Informationssystem konzeptualisiert sie als digitale Wohlfahrtsinfrastruktur, die von diversen Akteur:innen mittels verschiedener Technologien auf unterschiedliche Weisen hergestellt wird. Sie hat bereits verschiedene, teils ambivalente Auswirkungen digitaler Wohlfahrt identifiziert – etwa darauf, wie Sozialleistungen praktiziert werden, wie bürokratische Arbeit gemacht wird, wie Wissen über Armut und Bürger:innen produziert wird, wie Staatsakteur:innen mit anderen Bürger:innen interagieren, und wie Grenzen zwischen Staat und Markt und der technischen und politisch-sozialen Sphäre gezogen werden. Diese Beobachtungen werden nun im Rahmen ihrer Dissertation einer eingehenden Analyse unterzogen und theoretisiert.
Fotoquelle: Julia Malik: „Sisbén al campo“-Servicestelle für Bürger:innen im ländlichen Raum.