Gehirnaktivitäten | Foto: The Neuroscience of Expertise (Cambridge University Press)

Kein Meister fällt vom Himmel

Um zu einem Experten oder zu einer Expertin zu werden, braucht es im Schnitt zehn Jahre Übung. Der Kognitionspsychologe Merim Bilalić erklärt im Interview die Prozesse im Gehirn von ExpertInnen.

Was macht eine Frau zu einer Expertin bzw. einen Mann zu einem Experten?
Expertinnen und Experten sind Menschen, die in einer bestimmten Domäne Leistungen erbringen, die klar überdurchschnittlich sind. Ihr Können ist weder zufällig noch von zeitlichen oder räumlichen Faktoren abhängig. Wenn wir uns wissenschaftlich mit Expertentum beschäftigen, nehmen wir nicht nur die Besten, sondern auch die Guten in den Blick. Wie sehr sich die Leistung vom Durchschnitt abheben muss, ist nicht definiert.

Worüber verfügen Expertinnen und Experten?
Sie haben eine große Menge domänspezifischen Wissens, die sie mit Übung erworben haben.

Muss man sich dieses Wissen bewusst aneignen bzw. welche Rolle spielt Talent?
Letztlich ist es bei allen ExpertInnen so, dass sie sich ihre Fähigkeiten erarbeitet haben. Man sagt, dass es in der Regel zehn Jahre bzw. 10.000 Stunden an gezielter Übung braucht, um zu einer bestimmten Meisterhaftigkeit in einem Gebiet zu kommen. Mit gezielter Übung meine ich, dass man nicht zum Spaß einer Sache nachgeht, sondern bewusst zielorientiert am Besserwerden arbeitet. Ich kann mir vorstellen, dass manche schneller als andere lernen, was wohl letztlich auf das zurückgeführt werden kann, was wir Talent nennen.

An das Genie glauben Sie also nicht?
Sehr wenige von jenen, die Spitzenleistungen erbringen, denken, dass sie etwas Besonderes sind. Sie wissen eben auch, was sie gemacht haben, um zu dieser Position zu gelangen. Und meistens ist es so, dass sie ihr ganzes Leben an der Meisterhaftigkeit in der gleichen Sache gearbeitet haben. Die meisten solcher Biographien sind von einer obsessiven Verfolgung von Zielen geprägt. Gleichzeitig bin ich mir auch sicher, dass, wenn jemand anderer genauso viel geübt hätte, er trotzdem nicht die gleichen Leistungen erreicht hätte. Aber das wissen wir nicht.

Wer lernt besonders leicht oder schnell?
Gemeinhin sagt man, dass Kinder wesentlich leichter lernen als Erwachsene. Je früher sie damit anfangen, in einer Domäne Fähigkeiten oder Wissen zu erwerben, desto besser lernen sie. Man weiß aber nicht, warum das so ist. Ich meine: Es könnte sein, dass sie tatsächlich leichter und schneller lernen, oder es könnte aber auch so sein, dass sie einfach mehr Zeit haben, um zu lernen. Kinder konzentrieren sich im Wesentlichen den ganzen Tag über auf das Lernen.

Was geschieht an kognitiven Prozessen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Wahrnehmung im Gehirn von Expertinnen und Experten?
Expertinnen und Experten haben einen großen Erfahrungsschatz, auf den sie in dem Moment zugreifen, in dem sie vor einer bestimmten Situation stehen. Nehmen wir Radiologinnen und Radiologen als Beispiel: Sie haben in ihrem Leben bereits unzählige Röntgenbilder gesehen. Wenn sie nun auf ein neues Bild blicken, auf dem sie Auffälligkeiten erkennen sollen, rufen sie dieses domänspezifische Wissen ab und können die sich ihnen bietende Situation sofort einschätzen. Ein Novize hingegen, also beispielsweise ein Turnusarzt oder ein Medizinstudent, muss das gesamte Bild absuchen. Novizen brauchen mehr Zeit und machen mehr Fehler, um die Aufgabe zu lösen. Vordergründig sieht es so aus, als ob die Prozesse im Gehirn einer Expertin ‚einfacher‘ wären; in Wahrheit ist es aber so, dass sehr viel domänspezifisches Wissen abgerufen werden muss, um eine Situation einzuordnen. Dazu haben wir verschiedene Untersuchungen gemacht. Der Effekt lässt sich im Übrigen auch bei SchachspielerInnen zeigen.

Macht also die Vorerfahrung die schnellere Auffassungsgabe?
Ja, je mehr Assoziationen bzw. Inhalte in unserem Gedächtnis oder Gehirn gespeichert sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir die Situation schnell erkennen und eine geeignete Lösung finden.

Wie lässt sich das in Ihrer Forschung zeigen?
Die Grundlage für uns sind einerseits Verhaltensdaten, das heißt, wir beobachten, wie schnell jemand eine Lösung für ein Problem findet und wie gut sie ist. Andererseits haben wir auch biologische Daten: So können wir die Augenbewegungen messen und daraus auf die Aufmerksamkeit der ProbandInnen schließen. Beispielsweise zeigen gerade diese Messungen der Augenbewegungen, dass die Novizen ein gesamtes Bild betrachten und die Expertinnen bereits auf einen Blick die Situation erfassen. Zusätzlich kann man mit Hilfe der Magnetresonanztomographie (MRT) aufzeigen, was im Gehirn passiert.

Was zeigen die Bilder vom ExpertInnen- Gehirn?
Mit diesen Bildern lässt sich die These vom abgerufenen Erfahrungs-Wissen bestätigen: Üblicherweise nutzen alle Menschen zur Problemlösung die Regionen im Gehirn, die man zum Denken bzw. zum Manipulieren braucht. Dafür ist der frontale Lappen verantwortlich. Die Expertinnen und Experten nutzen zusätzlich viel mehr als andere den so genannten temporalen Lappen, also den Bereich, wo Wissen abgespeichert ist. Dieses Phänomen tritt auch bei NovizInnen auf. Beides konnten wir am Beispiel der SchachspielerInnen zeigen. Bei Expertinnen und Experten sehen wir im Vergleich zu den NovizInnen zusätzlich, dass dieser temporale Lappen nicht nur auf einer Seite des Gehirns, sondern gleichzeitig auch auf der anderen Seite aktiviert wird. Expertinnen und Experten haben also in ihrer jeweiligen Domäne mehr Gehirnkapazität zur Verfügung. Diese nutzen sie dafür, zwei Aufgabenschritte parallel zu lösen – also zu erkennen, worum es geht, und daraus zu schließen, was damit zu machen ist. Erst der Einsatz beider Gehirnhälften macht diese automatische Parallelität möglich. Und diese Parallelität ist beispielsweise bei SchachspielerInnen sehr wichtig, weil sie nicht nur die Situation erfassen müssen, sondern auch verstehen müssen, in welchen Beziehungen diese zu anderen Optionen steht und welche Entwicklungsperspektiven sich daraus ergeben. Das Gehirn läuft in diesem Moment auf Hochtouren.

Wer auf Basis seiner Vorerfahrungen schnell Situationen einschätzen kann, läuft doch auch Gefahr, blinde Flecken zu haben. Wie sehen Sie diese Gefahr?
Grundsätzlich ist es immer gut, viel zu wissen. Der Mensch braucht seine Vorerfahrungen, sonst wäre der Alltag zu kompliziert: Unser Wissen ermöglicht es uns, uns ohne großen kognitiven Aufwand im täglichen Leben zurechtzufinden. In sehr seltenen Fällen kann es aber sein, dass wir durch unsere Vorerfahrungen in gewisser Weise ‚blind‘ für eine bessere Lösung sind. Wir nennen das den ‚Einstellung- Effekt‘. Unser Gehirn tendiert in der Regel dazu, eine vertraute, gute Lösung für ein Problem zu präferieren, statt nach Alternativen zu suchen. Viele Lösungen sind also Variationen schon früher erfolgreich erprobter Ansätze. Das Schlimme daran ist, dass wir uns dessen nicht bewusst sind.

Wenn wir uns also eine Welt bestehend aus lauter Neugeborenen vorstellen, würde diese Gesellschaft zu gänzlich anderen Lösungen für die Form des Zusammenlebens kommen?
Das können wir nicht wissen. Ich bin mir aber sicher, dass sie schnell Erfahrungen sammeln und sich auf Basis dessen zurechtfinden würden. Im Kern würden sie gleich funktionieren wie wir: Sie würden sich ‚einstellen‘. Daraus ergeben sich dann auch die Beschränkungen des Denkens, wie wir sie beispielsweise auch in der Wissenschaft immer wieder haben. Der Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn beschreibt die Wissenschaft als eine Folge von Phasen der Normalwissenschaft und von wissenschaftlichen Revolutionen. Die Revolutionen kamen jedenfalls immer wieder von Menschen, die neu zu einem Feld hinzugestoßen sind oder jung waren. Die Revolutionären waren also nicht indoktriniert.

für ad astra: Romy Müller

Die Augenbewegungen zeigen deutlich: Eine erfahrene Radiologin erkennt Auffälligkeiten auf einem Röntgenbild auf einen Blick. Ein Medizinstudent hingegen muss das gesamte Bild absuchen.


Bilalic Merim | Foto: aau/Müller

Zur Person

Merim Bilalić ist seit 2013 Universitätsprofessor an der Abteilung für Allgemeine Psychologie und Kognitionsforschung am Institut für Psychologie der AAU. Ausgehend von der Universität Sarajevo war er an der Oxford University, der Humboldt-Universität, der Brunel University und an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen tätig, wo er 2012 zur „Neurowissenschaftlichen Expertiseforschung“ habilitierte. 2016 erscheint sein neues Buch „The Neuroscience of Expertise“ (Cambridge University Press).