Im Zeitalter der Selfies
Verändert uns die Technik oder sind es gesellschaftliche Prozesse, die Technologien erst aufkommen lassen? ad astra hat mit dem Kulturanthropologen Klaus Schönberger über die Gesellschaft im Zusammenspiel mit ihren technologischen Möglichkeiten im Zeitalter der Selfies gesprochen.
Wir treffen uns am Benediktinermarkt, einem traditionellen Ort der Begegnung. In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich unter anderem mit dem Internet als digitalem Ort der Begegnung. Von Seiten des Kulturpessimismus wird die Sorge geäußert, dass sich der Mensch irgendwann nur noch im virtuellen Raum aufhalten und begegnen wird.
In einem haben die Kulturpessimisten recht: Viele soziokulturelle Praktiken haben sich im Zuge der Digitalisierung verändert. Ob das ein Anlass zur Sorge ist, ist eine Frage des Standpunkts. Nehmen wir das Beispiel der „Selfies“: Mit ihnen findet etwas statt, das es schon immer gegeben hat. Man hat sich auch früher vor dem Eiffelturm oder vor der Mona Lisa selbst fotografiert. Mit den Möglichkeiten von Smartphones hat sich das Phänomen ausgeweitet. Ich spreche in diesem Zusammenhang von Persistenz und Rekombination. Damit meine ich, dass diese digitalen Medien für Praktiken genutzt werden, die es immer schon gegeben hat. Neu sind die veränderten technologischen Bedingungen.
Der Mensch ist also nicht narzisstischer geworden?
Der Begriff des Narzissmus wird in der Regel falsch benutzt; unabhängig davon meine ich aber, dass nicht der Mensch narzisstischer geworden ist, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, die dazu führen, dass man sich selbst zu inszenieren hat. Das ist ein allumfassender gesellschaftlicher Prozess. Dem liegt eine veränderte Produktionsweise und Wertschöpfung mit den entsprechenden Arbeitsbedingungen zugrunde. Heute rufen andere Aspekte Wertschöpfung hervor. Die Menschen qualifizieren sich selbst für eine Entwicklung, der sie sich ausgesetzt sehen. Beispielsweise arbeiten wir mehr mit Symbolen, die in postindustriellen Zeiten wichtiger geworden sind. All das drückt sich auch in Selfies aus. Natürlich kann man nicht ausschließen, dass dies bisweilen in einer übersteigerten Form passiert. Das konnte man aber in der Geschichte auch bei anderen technologischen Neuerungen nie.
Was hat sich verändert?
Gegenüber dem klassischen Fotoalbum haben sich die Qualität der Aufnahmen, die Geschwindigkeit und die Form der Speicherung verändert. „Wie das Alte neu wird“, das interessiert mich. Vom Kulturpessimismus kommen bei jeder neuen Technologie die gleichen Argumente: Die Menschen werden gemeiner, brutaler, selbstsüchtiger, und die Medien führen dazu, dass wir sozial vereinsamen. Das trifft in dieser Form einfach nicht zu.
Cybermobbing ist ein Thema, das häufig im öffentlichen Diskurs steht. Welche Rolle spielen soziale Medien wie Facebook dabei?
Nicht das Medium ist die Ursache. Wir müssen uns fragen, was dazu führt, dass Menschen ausgegrenzt und diskriminiert werden. Mobbing an den Schulen gab es schon immer; heute erfolgt es durch die digitalen Möglichkeiten in veränderter Weise. Wir finden in den Diskursen meist eine Konzentration auf die Kritik dieser Medien; in Wahrheit müssen wir uns aber über die Strukturen unterhalten, die Gewalt und Ausgrenzung erzeugen. Facebook an sich ist also weder gut noch schlecht, sondern es kommt auf die Art der Nutzung an. Vielfach dient es zur Organisation von sozialem Austausch und zur Verortung von Zugehörigkeitsgefühl, also etwas, das bei Jugendlichen immer schon von großer Bedeutung war.
Blickt man seit jeher mit dieser Skepsis auf neue Entwicklungen?
Ja. Wenn ich mir die Debatten über das Kino am Anfang des 20. Jahrhunderts ansehe, finde ich dieselben Argumente. Eigentlich müsste ich nur die Begriffe austauschen, beispielsweise „Fernsehen“ oder „Videospiele“ statt „Kinematograph“, und erhalte auf diese Weise heute noch aktuell wirkende Texte.
Wo findet die Auseinandersetzung statt?
Nehmen wir als Beispiel die Nutzung von Handys in öffentlichen Verkehrsmitteln und die entsprechende Debatte dazu. Die Medien haben eine gewisse Alltagsbedeutung, und ihr Gebrauch führt zu sozialen Auseinandersetzungen. Andere Felder sind der Generationenkonflikt: Immer wieder wird behauptet, die Jungen seien schlimmer, gemeiner, gewalttätiger. Das stimmt nicht, oft ist sogar das Gegenteil der Fall.
Kommen wir zu einem euphorisch rezipierten Aspekt der digitalen Technologien: die Demokratisierung.
Die digitalen Medien bringen zum größten Teil kein Mehr an Demokratisierung. Diese Medien nützen letztlich wieder jenen, die sowieso schon gut qualifiziert sind und sich der Technologien geschickt bedienen. Dafür braucht man Sprachkompetenzen, die wichtig sind, um sich zu orientieren und ein Publikum für selbst Produziertes zu finden. In der Regel können die, die schlau sind, noch schlauer werden. Das war und ist übrigens schon beim Fernsehen nicht anders. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die soziale Schere weiter auseinanderklafft. Das hat aber wieder andere
Hintergründe, die sich nicht mit der Technik an sich erklären lassen, sondern mit der Verteilung der Qualifikation, mit solchen Medien umzugehen.
Ist gesellschaftlich angesehen, wer sich souverän im digitalen Raum bewegt?
So kann man das nicht sagen. Ich meine aber, dass über den Diskurs zu Medien auch die Wertigkeit von Kompetenzen in der gegenwärtigen Gesellschaft zugewiesen wird. In der Regel ist es so, dass das klassische Bildungsbürgertum, das zu einem Großteil kulturpessimistisch argumentiert, sich noch überlegen gegenüber den technisch orientierten Gruppen fühlt. Die Verteilung der Währung „Kulturelles Kapital“ wird in diesen Diskursen verhandelt. Diese Konflikte stehen für eine soziale Auseinandersetzung.
Ein Feld, das sich durch digitale Medien stark verändert, ist die Arbeit.
Nehmen wir als Beispiel die Trennung von Arbeit und Freizeit. Ein Smartphone macht Sie für Ihren Chef oder für Ihre Chefin immer erreichbar. Wie sich das auf Sie auswirkt, hängt von Ihrem
Arbeitsverhältnis und Arbeitsinhalt ab. Befinde ich mich in einem abhängigen Arbeitsverhältnis, kann das die Hölle sein. Bin ich allerdings selbstständig oder kann ich einen Großteil meiner Tätigkeit selbstständig organisieren, wie das bei einem Universitätsprofessor der Fall ist, kann mir das auch Freiheiten ermöglichen. Die Aufhebung der 9-to-5- Idee ermöglicht es mir, vieles erst dann zu erledigen, wenn meine Kinder im Bett sind. Um Konsequenzen eines Mediums einschätzen zu können, muss ich genau hinschauen, wer in welcher Weise betroffen ist.
Je nach Gruppe ergeben sich also Vor- und Nachteile, die verschieden stark gewichtet sind.
Wir beobachten eine zunehmende Individualisierung: Die Gruppen, die gemeinsame Erfahrungen machen oder ein gemeinsames Bewusstsein entwickeln, werden kleiner. Die digitalen Medien
bieten ein Mittel, um sich neu beziehungsweise anders zu organisieren. Die Fabrik war zunächst auch etwas Ungewohntes. Die massenhafte Versammlung von Menschen war aber auch der Ausgangspunkt dafür, dass man in der Masse gemeinsam solidarisch agieren konnte. Jetzt gibt es neue Formen von Vergesellschaftung wie des Protests.
Ein häufig genannter Aspekt im medienkritischen Diskurs ist die veränderte Geschwindigkeit. Viele sagen, dass der Mensch im Alltag mit den neuen Geschwindigkeiten nicht umgehen könne.
Wenn ich mir ansehe, mit welchem Diskurs die Einführung des Kinos begleitet wurde, werden mir ähnliche Argumentationen auffallen. Alles gehe zu schnell und der Kopf könne das nicht verarbeiten. Die Vorstellung dessen, was adäquat ist, ist immer auch historisch zu verstehen. Die Allgegenwärtigkeit des Smartphones erfordert eine Form des Multitaskings. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Wie ich beispielsweise mit der ständigen Erreichbarkeit umgehe, hängt auch davon ab, welches Konzept ich von alltäglicher Lebensführung habe.
Sich zu entziehen wird in vielen Bereichen schwierig.
Ja, das hängt natürlich auch mit der Veränderung in der Produktionsweise zusammen. Heute erwartet man in vielen Bereichen eine unmittelbare Reaktion auf ein E-Mail. Dafür ist aber am wenigsten die Technologie zuständig, sondern eine Form von Kapitalismus, die eine Beschleunigung erfordert. Das würde ich lieber in einen Gesamtzusammenhang bringen, was natürlich forschungsökonomisch eine Herausforderung ist, weil man sich mit vielen Themenkomplexen beschäftigen muss. Die Zerstückelung und spezifizierte Sichtweise, wie sie heute in der Forschungslandschaft üblich ist, macht häufig blind für einen größeren Zusammenhang.
Haben es die „digital natives“ leichter, den neuen Logiken der Arbeitswelt zu entsprechen?
Die Rede von den „digital natives“ empfinde ich als merkwürdig. Sie haben zwar den Vorteil, mehr technische Fähigkeiten zu haben. Gleichzeitig brauchen aber auch sie Kompetenzen, diesem von den Technologien geprägten Alltag nachzukommen. Dabei sind viele andere Aspekte genauso zu betrachten.
Neben der Arbeit gibt es auch den Bereich des Privaten, in den die digitalen Medien stark hineinwirken. Dating-Plattformen erfreuen sich eines großen Zulaufs. Verändern sie die Beziehungen des Menschen?
In Wahrheit ist auch das ja nichts Neues. Früher gab es Kontaktanzeigen. Die Praktik ist also nicht neu. Das Netz bietet aber veränderte Möglichkeiten, besonders für jene, die im realen Raum weniger Gelegenheit haben, sich zu finden. Das ist beispielsweise bei sexuellen Minderheiten der Fall, die es – vor allem auf dem Land – schwer haben und im virtuellen Raum leichter Kontakte knüpfen können. Ähnliches ist auch bei Seitensprung-Portalen zu beobachten, in denen sich viele 40- bis 50-jährige Frauen tummeln, um im Schutze des Netzes einen sexuellen Partner zu finden. Zu diesen Diensten gibt es keine Entsprechungen im realen Leben, insbesondere nicht auf dem Land. Hier wirkte die Technologie doch demokratisierend. Es gilt aber auch: Um mich geschickt zu
verhalten, muss ich bestimmte Kompetenzen besitzen oder erwerben.
Der Vorwurf, diese Form der Partnersuche folge den Prinzipien des „Einkaufens“ in einem „Laden von potenziellen Traumpartnern“, stimmt für Sie also nicht.
Diese Ökonomisierungsthese ist erstens ahistorisch. Die romantische Vorstellung von Liebe ist etwas sehr Neues bzw. selbst etwas Romantisches. Wenn ich mich in der Geschichte umsehe, wie Ehen früher gestiftet wurden, werde ich fast ausschließlich auf ökonomisierte Prozesse stoßen. Zweitens: Wenn gegenwärtig alles ökonomisiert ist, erscheint es mir merkwürdig, gerade das zu kritisieren.
Kommen wir zum Schluss nochmals zur Metaebene: Wenn die Gleichung „Technologie X = Folgen A, B und C“ nicht stimmt, gibt es dennoch eine Technik, die einschneidende Konsequenzen gebracht hat?
Es ist nicht so, dass die Technologien keine Folgen hätten. Natürlich wirken sie. Ich möchte aber stärker nach den Gründen fragen. Für die Industrialisierung war die Technik eine notwendige Voraussetzung, aber keine hinreichende. Eine Technik sitzt auf spezifische gesellschaftliche Entwicklungen auf. Nehmen wir den computerspielenden Amokläufer: Für jemanden, der isoliert ist und psychische Probleme hat, kann das gewaltvolle Computerspiel ein letzter Kick sein, um zum Amokläufer zu werden. Daran ist aber nicht die Technik schuld. Wenn ich Gewalt bekämpfen will, muss ich dorthin gehen, wo Gewalt entsteht. Polemisch gesagt: Wir reden über Medien, um nicht über Strukturelles, das heißt die tatsächlichen Ursachen – nämlich gesellschaftliche Verhältnisse, die Gewalt bedingen oder selbst gewalthaft sind – reden zu müssen.
für ad astra: Romy Müller
Zur Person
Klaus Schönberger, geboren 1959, ist seit Jänner 2015 Professor für Kulturanthropologie am Institut für Kultur-, Literatur- und Musikwissenschaft. Davor war er Dozent für Kultur- und Gesellschaftstheorie an der Zürcher Hochschule der Künste. Schönberger habilitierte 2010 an der Universität Hamburg. Er interessiert sich für den soziokulturellen Wandel in alltäglichen Lebensbereichen, Cultural Heritage, Wandel der Arbeit sowie Digitalisierung und Protest.
Jüngst ist in der Zeitschrift für Volkskunde (2/2015) sein programmatischer Aufsatz „Persistenz und Rekombination – Digitale Kommunikation und soziokultureller Wandel“ erschienen.