Im Namen von Wissenschaft und Kindeswohl: Buchpublikation und Theaterstück zur Gewalt an Kindern und Jugendlichen in heilpädagogischen Institutionen der Jugendwohlfahrt und des Gesundheitswesens in Kärnten zwischen 1950 und 2000
Gewaltprävention kann ohne die Aufarbeitung der Bedingungen, die historische Gewalt ermöglichten, nicht gelingen. Dies zeigt die aktuelle Studie „Im Namen von Wissenschaft und Kindeswohl“ des Forschungsteams unter der Leitung von Ulrike Loch. „Die Aufarbeitung systematischer Kindesmisshandlung ist nicht nur für die Opfer von emotionaler Bedeutung, sondern auch für die Gesellschaft, die den Opfern nicht geglaubt und jahrzehntelang weggesehen hat“, so Ulrike Loch. Für ihre Forschung erhielt sie den Kärntner Menschenrechtspreis; derzeit ist zudem ein Theaterstück zu sehen, um die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Gewalt anzustoßen.
In der österreichischen Kinder- und Jugendpsychiatrie (u.a. in Innsbruck, Klagenfurt und Wien) sowie in der Jugendwohlfahrt überwogen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts heilpädagogische Behandlungs- und Betreuungsansätze, die von medizinischen Biologismen und totalen Institutionen dominiert waren. Kinder und Jugendliche riefen oftmals vergebens um Hilfe: „Liebe Eltern! Mir geht es nicht gut, ich bekomme jeden Tag eine Spritze […]. Ich stehe jetzt unter Behandlung. Herzliche Grüße, Euer schlimmer Niklas“. Dies ist nur einer der Briefe von misshandelten Kindern, die die Mauern der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Kärntens niemals verlassen haben. Den Stein ins Rollen zur Aufarbeitung dieser Gewalt brachte in Kärnten der Fall des Primars und Kinderarztes Franz Wurst, gegen den im Jahr 2000 wegen Mord an seiner Ehefrau ermittelt wurde. Im Zuge dieser Ermittlungen meldeten sich ehemalige Patient*innen zu Wort. Es traten unglaubliche psychische, physische, strukturelle und sexualisierte Misshandlungen und epistemische Gewalt in Form von Begutachtungen zutage, die systematisch in Institutionen wie Kinderheimen und Heilpädagogischen Anstalten verübt wurden.
2013 richtete das Land Kärnten eine unabhängige Opferschutzstelle, unter der Leitung von Frau Astrid Liebhauser, ein. Bis heute haben sich an diese Opferschutzstelle 530 Menschen gewendet. Auf Initiative der Kärntner Kinder- und Jugendanwaltschaft erforschte Ulrike Loch gemeinsam mit ihrem Forscherteam der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt die Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Zeitraum 1950-2000 im Bundesland Kärnten wissenschaftlich. Denn Gewaltprävention benötigt historische Aufarbeitung, Anerkennung des Unrechts gegenüber den Opfern und gesellschaftliche Verantwortungsübernahme.
„Kinder und Jugendliche wurden in diesen Jahren stigmatisiert, ihren Familien entzogen und eingesperrt, wenn ihre Familien als sozial auffällig galten – dies reichte von unehelich geborenen Kindern bis hin zu Familien, die in bitterer Armut lebten, weswegen die Kinder Lebensmittel stahlen und daraufhin psychiatrisiert wurden“, erläutert Ulrike Loch die Ausgangssituation. Man nannte dies damals „Entfernung aus dem Milieu“.
Die Fremdunterbringung war die bevorzugte „Maßnahme“; einmal weggesperrt erlitten Kinder und Jugendliche Gewalt. Sie wurden bei „Auffälligkeiten“ (u.a. bei Fluchtversuchen oder zu wehrsetzendem Verhalten in der Gewaltsituation) medikamentös ruhiggestellt, und sie hatten niemandem, dem sie sich anvertrauen konnten. „Kinder waren ihren Betreuer*innen hilflos ausgeliefert und litten unter der Trennung von den Eltern. Die Aktenanalyse machte deutlich, dass für viele Eltern ein Besuchsverbot galt und somit die Kinder und Jugendlichen oftmals über Wochen keinerlei Kontakt zu ihnen hatten.“
Judith Arztmann und Elvisa Imsirovic beschäftigten sich u.a. mit pathologisierenden Perspektiven auf Kinder und Jugendliche, die in Institutionen der Heilpädagogik und Jugendwohlfahrt untergebracht waren. Auf Basis von defizitorientierten und biologistisch ausgelegten heilpädagogischen Theorien, die sich u.a. in der Begutachtungspraxis und im Berichtswesen der Jugendwohlfahrt wiederfinden, wurden Kinder und Jugendliche sowie ihre Familien stigmatisiert. Darüber hinaus wurden in den heilpädagogischen Dokumentationen soziale Prognosen für die jungen Heranwachsenden gestellt, die sich auf ihren weiteren Bildungs- und Berufsweg und auf ihre Position in der Gesellschaft negativ auswirkten.
„Die heilpädagogischen Dokumentationen hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen, wie beispielsweise Fremdunterbringung, Sonderschulzuweisung oder Heimentlassung. Ihre Inhalte schrieben sich durch vielen unmenschlichen Behandlungs- und Erziehungspraktiken in die Psyche der Kinder und Jugendlichen ein. Sie wirken zum Teil noch bis in die Gegenwart nach. So waren viele Menschen, die sich an die Opferschutzstelle wandten, tief betroffen, wenn – sie nun als Erwachsene – ‚ihre‘ Krankenakten und Führungsberichte der Jugendwohlfahrt lasen. Sie thematisierten in den Interviews u.a. schambehaftete Aussagen über den eigenen Körper“, erläutern Judith Arztmann und Elvisa Imsirovic. Zusammenfassend stellte die Dokumentation über Kinder und Jugendliche eine weitere Gewaltform dar, der die jungen Heranwachsenden hilflos ausgesetzt waren.
Wieso ist eine wissenschaftliche Aufarbeitung von Bedeutung? „Mit unserer Publikation geben wir in Kärnten Menschen eine Stimme, die in ihrer Kindheit als unglaubwürdig dargestellt wurden“, erklärt Loch. „Mit der Aufarbeitung geben wir ihnen öffentlich ein Stück ihrer Menschenwürde zurück, was für die ehemaligen Opfer unglaublich wichtig ist. Viele von ihnen leiden noch als Erwachsene an den Folgen von sexualisierter Gewalt wie den schmerzvollen sogenannten Genitaluntersuchungen im Kontext der Psychiatrie, falscher medikamentöser Behandlung und Isolation. Diese Erfahrungen begleiten sie ihr ganzes Leben.“
Für das Forscherteam ist klar: Gewaltprävention ist gesellschaftlich ohne die Aufarbeitung historischer Gewalt nicht möglich. Oder wie es eines der Kärntner Opfer auf den Punkt bringt: „Hätte man mir 1979 geglaubt, dann hätte es alle anderen Opfer bis 2000 ja nicht mehr gegeben.“ Für Kärnten waren die Zahlen erschreckend: Es meldeten sich bisher 530 Personen und nach jeder öffentlichen Thematisierung trauen sich weitere Menschen zu sprechen und sich an die Opferschutzstelle zu wenden. Dies entlastet ihre Familien, auch ihre Kinder. Viele ehemalige Opfer sind inzwischen verstorben, da sie aufgrund der unglaublichen Leidensgeschichte vielfach stark erkrankten und früh verstarben. Das Risiko für ein Abgleiten in Drogen- und Alkoholsucht war groß, zumal sie mit dem Erlebten nicht umzugehen wussten, da ihnen weder Gehör noch Glauben geschenkt wurde. Das heilpädagogische Prinzip fußte auf Entindividualisierung als Teil der Erziehung zur Unterwerfung.
Das Forschungsteam gab die 390 Seiten starke wissenschaftliche Publikation „Im Namen von Wissenschaft und Kindeswohl – Gewalt an Kindern und Jugendlichen in heilpädagogischen Institutionen der Jugendwohlfahrt und des Gesundheitswesens in Kärnten zwischen 1950 und 2000“ heraus, erschienen 2022 im StudienVerlag. Dieser Publikation folgt nun eine darauf basierende Theaterproduktion des Regisseur Noam Brusilovsky am Stadttheater Klagenfurt, die im April 2022 uraufgeführt wurde, unter dem Titel „Nicht sehen“ (https://www.stadttheater-klagenfurt.at/produktionen/nicht-sehen/).
Zu den Personen:
Ulrike Loch, Prof.in Dr.in, leitete das Projekt „Gewalt an Kärntner Kindern und Jugendlichen in Institutionen“. Sie ist assoziierte Professorin für Soziologie kultureller und kommunikativer Prozesse an der Fakultät für Bildungswissenschaften sowie Direktorin des Kompetenzzentrums für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Freien Universität Bozen.
Elvisa Imsirovic, Mag.a phil., war als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt tätig und lehrt an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Schwerpunkt der Lehre sind u.a. Inhalte der Studie.
Judith Arztmann, BA MA, verfasste im Rahmen des Forschungsprojektes ihre Masterarbeit mit dem Titel „Die Darstellung von Kindern und Jugendlichen in Heilpädagogischen Gutachten“ (2019). Hierzu analysierte sie heilpädagogische Krankenakten aus der Zeit von 1969 bis 1985 aus dem Archiv des Klinikums Klagenfurt.
Foto kostenfrei für Berichterstattung zum Projekt: