Im Kosmos von Sabine Seelbach
Meinen Kosmos muss man sich vorstellen wie das Brüsseler Atomium: als ein polytopisches Gebilde aus vielen Orten. Die Orte sind mit Röhren – also mit Flugzeugen und Zügen – miteinander verbunden. Meine Daseinsweise ist das Reisen zwischen allen Orten, die für mich relevant sind. Klagenfurt ist mein Arbeitsort, in Münster leben mein Mann und mein Sohn, dann gibt es die pflegebedürftige Mutter andernorts in Münster sowie andere Orte, die ich beruflich regelmäßig aufsuche. So fühle ich mich eher in Transiträumen, in Röhren, also dort, „wo Leerzeit umsonst bei Bewusstsein hält“ (Durs
Grünbein). Das ist ein ganz entscheidendes Lebensgefühl, jedoch kein gutes! Daraus resultiert das Bedürfnis nach einem realen Ort, der sich immer gleichbleibt und einen Anker bildet. Das Zerstreute in einem Selbst und mit den
Menschen, die einem am wichtigsten sind, wird dort wieder gesammelt. Diesen Ort gibt es: meine Insel Juist.
Nicht jede Insel hat die Gabe, die Menschen zu sich selbst zu führen. Diese ostfriesische Insel ist großzügig angelegt und wenig bebaut. Sie hat nur wenige Quartiere. Hier wird es möglich, von der zerstreuten Existenz, zu der man sonst verurteilt ist, Abstand zu gewinnen. Was einem im Alltag so unübersteigbar und unhinterfragbar erscheint, wird plötzlich auf das angemessene Maß reduziert. Das funktioniert vor allem durch Entschleunigung und Medienfasten.
Es gibt auf Juist keine Autos. Das einzige Transportmittel ist die Pferdekutsche. Auf zehn Juister kommt ein Pferd, und hier wohnen nur 1500 Menschen. Nur einmal pro Tag fährt ein Schiff zum Festland. Es ist die Politik der Insel, keine ständig befahrbare Fahrrinne auszubauen wie auf den prominenten Inseln, etwa Norderney. Hier bleibt man ganz auf den Rhythmus der Gezeiten angewiesen. – Oder frei nach Camus gesprochen: Hier kann man Zeit gewinnen – andere nennen es Zeit verlieren.
Auf der Insel geht alles seinen geregelten Gang. Neben dem täglichen Bad im Meer (gezeitenabhängig natürlich) gibt es Radtouren auf gut befestigten Wegen, etwa zum Ausflugsort „Domäne Bill“ am äußersten Inselbogen im Westen. Das Essen muss aber erst verdient werden, indem man sich dorthin bewegen muss, bis man seinen Körper spürt. So geht die Verkopftheit in die Körperlichkeit zurück.
Wanderungen mache ich lieber alleine. Die spezifische Geräuschkulisse und die Empfindungen wie das Einatmen der salzgetränkten Luft, das Wahrnehmen der verschiedenen Farben des Meeres, geht gerne verloren, wenn man sich unterhaltenderweise am Strand entlang bewegt.
Juist ist unser familiärer Krafttank. Ich finde es bemerkenswert, dass unser schon 22-jähriger Sohn sich immer noch
dieses Zeitfenster für Urlaub mit seinen Eltern nimmt. Sonst geht er völlig selbstständig seiner Wege. Medienfasten fällt mir am schwersten. Es grenzt an Entzug, wenn man den Stoffwechsel von Information nicht hat. Auf der Insel gibt es nur zwei entfernte Punkte mit Internetempfang. Ich lese hier einen Inselkrimi oder archivierte FAZ-Artikel, aber keine E-Mails. Nach einigen Tagen vermisst man es nicht mehr, und der Erholungseffekt tritt ein. Es ist sagenhaft, was Informationsentzug an Regeneration bringen kann.
Eine gelassen heitere Grundstimmung ist meines Erachtens notwendig, um wirklich kreativ sein zu können. Das vermisse ich am Alltag am meisten. Durch Tempo, Stress und Überinformation werden die wertvollsten Kräfte gebunden. Der Raum für Kreativität geht nahezu verloren. Neue Ideen werden somit dem Zufallsprinzip unterworfen, entziehen sich also der Verfügbarkeit.
für ad astra aufgezeichnet: Barbara Maier
Zur Person
Geboren: 1960 in Berlin-Pankow
Beruf: Universitätsprofessorin für Ältere Deutsche Philologie an der AAU seit 2011
Studium: Philosophie und Germanistik an der Universität Leipzig
Kosmos: Polytopisch bzw. Atomium mit Insel (Juist)