Josef Winkler: „Ich hatte nichts als die Literatur im Kopf“
Für das Schreiben braucht Josef Winkler eine gute Umgebung. Eine davon ist die Universität Klagenfurt, wo seine wichtigsten Bücher entstanden sind. Das Gespräch mit ad astra über die frühen Jahre und die schön-aufregende Arbeit an der Literatur fand in seinem Uni-Büro in der Sterneckstraße statt.
Woher kommt die bis heute enge Bindung zur Universität Klagenfurt?
Ich bin an der Universität praktisch aufgewachsen. Ich war hier schon von 1973 bis 1982 eine „Schreibkraft“, nachdem ich auf eine Ausschreibung in der Volkszeitung reagiert habe, was eigentlich für Frauen vorbehalten war. Aber meine langen Finger und das Zehnfingersystem, das ich in der Handelsschule gelernt habe, waren für diese Arbeit von Vorteil. Das hat man damals im Rektorat beim Vorschreiben schnell erkannt. Zuerst hat es ja geheißen: „Ein Mann als Schreibkraft?!“
Wie kamen Sie der Literatur näher?
Gelesen habe ich seit meiner frühesten Kindheit, vor allem Karl-May-Bücher. Mit Alois Brandstetter, dem Schriftsteller und Professor für Ältere Sprache und Literatur, haben wir 1979 an der damaligen Hochschule für Bildungswissenschaften den „Literarischen Arbeitskreis“ gegründet und über einige Jahre die Zeitschrift „Schreibarbeiten“ herausgegeben. Ich habe alles selber abgetippt und im Keller der Hochschule gedruckt. Wir haben über hundert Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem In- und Ausland zu Lesungen eingeladen, darunter Erich Fried, Elias Canetti, Wolfgang Hildesheimer, Franz Innerhofer, Hubert Fichte und Friederike Mayröcker.
Daneben haben Sie aber schon selbst geschrieben, oder?
1979 ist mein erster Roman „Menschenkind“ auf Empfehlung von Martin Walser bei Suhrkamp erschienen. Diesen habe ich im Zentralgebäude der Universität, wo heute das Forschungsrektorat ist, geschrieben.
Anstatt für die Universität zu arbeiten?
Es ist wahr, wir hatten damals nicht viel zu tun, und ich konnte dort auch am Abend und an den Wochenenden für mich arbeiten. Ich wohnte in der Universitätsstraße 1/3 und war damals ein eigenartig vereinsamter Mensch mit wenig Kontakten, der nichts als die Literatur im Kopf hatte. Ich habe wohl weit über tausend Seiten Tagebuch geschrieben, mich also in meine Sprache eingeübt, bevor die erste Zeile zum ersten Roman entstanden ist.
Sie waren aber bald ein freier Schriftsteller und später auch Familienvater. Seit 2003 haben Sie nun wieder ein Büro an der Universität, im Gebäude Sterneckstraße. Hier fühlen Sie sich wohl?
Als vor 16 Jahren meine Tochter auf die Welt kam, habe ich bei einem meiner Besuche bei den Freunden an der Universität in der Sterneckstraße 15 einmal gemeint, dass ich keinen Platz mehr zuhause habe. Ich fragte schließlich, ob ich ab und zu in einem freien Hörsaal arbeiten könnte. Man gab mir dieses Büro, dafür halte ich regelmäßig Vorlesungen.
Eignet sich die universitäre Umgebung gut für die Literaturschaffung?
Hier habe ich auch jene Bücher geschrieben, die mich dann zum Büchner-Preis geführt haben. Gerade habe ich wieder in diesem Uni-Büro zwei Bücher fertiggestellt, eines mit poetologischen und surrealen Texten unter dem Arbeitstitel „Begib dich auf die Reise oder Die Drahtzieher der Sonnenstrahlen“ und das andere, den poetischen Reisebericht „Der Stadtschreiber von Kalkutta“, der im kommenden Herbst im Suhrkamp Verlag erscheinen wird. Ich war einen Monat lang in Kalkutta. Ich bin jeden Tag mit dem Notizbuch und mit der Füllfeder in der Hand durch diese ungeheuerliche Stadt gegangen.
Was spricht Sie an und findet Platz in einem Notizbuch?
In Indien muss man nichts erfinden, man muss nur, wie es heißt, mit offenen Augen durch die Straßen gehen. Ich muss immer sofort alles genau aufschreiben, nicht in Anspielungen oder in Stichwörtern – allein das Wort „Stichwörter“ ist schon schrecklich. Zeit und Geduld ist das Wichtigste. Ich glaube auch nicht, dass es etwas zu versäumen gibt. Oft erregt mich beim Schreiben ein kleines Ereignis viel mehr als ein ungeheuerliches. Ich muss bei einem gefundenen Motiv bleiben, um es ausführlich beschreiben zu können. Dann kann so ein Notizbuch auch über Jahre unbearbeitet liegen bleiben. Wenn ich dann wieder hineinschaue, kann ich mich auch sehr genau an die Einzelheiten bildlich erinnern. Im Laufe der Zeit – und man darf sich nicht täuschen lassen – werden die Erinnerungen weniger und verschwommener. Es gibt im Musil-Archiv einen Stoß Reisetagebücher, die ich wahrscheinlich nie mehr bearbeiten werde.
Was sagen Sie zum vielzitierten Anspruch „Der erste und der letzte Satz müssen stimmen“?
Alle Sätze müssen stimmen in einem Buch, nämlich von vorn bis hinten! Friedrich Hebbel sagt: „Jeder Satz ein Menschengesicht!“ Alles muss auch durchkomponiert sein. Irgendwann stoße ich dann doch an meine Sprach-Grenzen. Das ist dann ein sehr trauriger Augenblick. Aber ich kann schon behaupten, dass ich bei dem einen oder anderen Buch doch das Möglichste aus mir herausgeholt habe.
Wo versteckt sich eigentlich Ihre Sprache, wenn ich das so fragen darf?
Unter der Haut, hinter dem Augapfel, überall. „Wir schreiben auch mit den Füßen!“ heißt es bei Nietzsche. Ich schreibe mich gerne auch ins Surreale hinein und spanne den Bogen, bis zum Brechen. Wenn ich vor die Tür gehe, bin ich mit dem Notizbuch unterwegs. Wenn in mir eine bestimmte Formulierung entsteht, muss ich sie sofort festhalten. Gute Formulierungen, die einem unterwegs einfallen, kann man nicht nacherzählen, ein schöner Satz kann nicht nacherzählt werden. Wie soll ich zum Beispiel den Satz nacherzählen: „Die Salbe Schönborn ist die Wünschelrute des Satans?“
Sie haben für Bücher, die oft beschwerlich und düster wirken, die wichtigsten Literaturpreise erhalten. Sie bleiben beim Thema?
Mein Thema ist ohne Frage das Land, wo ich aufgewachsen bin: der Katholizismus, die Rituale, die Dorfgeschichten, das Leben und Sterben auf dem Bauernhof, aber ich war auch viel unterwegs, in Indien, in Mexiko, in Italien … Wenn man unter ganz anderen Umständen und Lebensbereichen auch in anderer Zeit aufwächst, dann ist das Thema selbstverständlich auch ein anderes. Ich habe es als etwas herabwürdigend gefunden, dass mich manche höhnisch als „katholischen Kärntner Schriftsteller“ bezeichnet haben. Nach dem Büchner-Preis hat sich das niemand mehr getraut zu sagen. Ins Gesicht gesagt wird einem sowieso fast nichts.
Wie steht es um die Winklersche Provokationslust?
Diese Lust ist zweifellos geringer geworden. Ich versuche immer mehr, mich in Form und Stil zu erweitern und auch zu verstecken. Wer wirklich lesen kann, wird leicht herausfinden, was ich gemeint haben könnte, nämlich vor allem das Wort, die Sprache. In der Literatur geht es um Sprache, und sonst um gar nichts. Die karge und sprachlose Mitteilungsliteratur langweilt mich buchstäblich zu Tode. Das Leben muss beim Schreiben derart in Sprache verwandelt werden, so dass man rückblickend durch die Sprache das Leben wieder begreifen kann.
Barbara Maier für ad astra
Josef Winkler
geboren 1953 in Kamering bei Paternion, Kärnten, erhielt 14 Literaturpreise, darunter den Großen Österreichischen Staatspreis und den Georg-Büchner-Preis. 2009 wurde er Ehrendoktor der Universität Klagenfurt. Im Suhrkamp Verlag sind 20 Bücher erschienen, die in 17 Sprachen übersetzt wurden, darunter Japanisch, Litauisch, Bulgarisch, Russisch. Seit 2012 ist Josef Winkler Präsident des Österreichischen Kunstsenats.