„Ich bitte und flehe …“: Analyse von Bittschriften Versklavter in Ecuador

Hatten Versklavte zur Kolonialzeit im heutigen Ecuador den Eindruck, sie würden allzu grausam behandelt, konnten sie sich an ein Gericht wenden. Die Prozesse dieser Zeit wurden schriftlich geführt. Jennifer Gabel de Aguirre, assoziierte Professorin am Institut für Romanistik, hat das Korpus dieser Schriften, die aus den Jahren zwischen 1702 bis 1849 aus Gerichtsprozessen der Corte Suprema von Quito stammen, untersucht. In den Analysen ihrer Habilitationsschrift beschäftigt sie sich insbesondere damit, wie Versklavte im Sinne von Diskurstraditionen für ihre Anliegen argumentierten.

Gemeinhin glaubt man ja, dass versklavte Menschen das Eigentum anderer Menschen waren und selbst keine Rechte hatten. Sie haben sich aber mit den Prozessen von Versklavten in Ecuador beschäftigt. Hatten diese Menschen also doch Rechte?

In einigen Gesellschaften, in denen die Sklaverei verankert war, behielten die Versklavten in einem kleinen Ausmaß Rechtsfähigkeit und konnten Gerichte anrufen, wenn sie meinten, zu Unrecht schlecht behandelt zu werden. Im Ecuador der Kolonialzeit und kurz danach war das der Fall.

Welche Dokumente liegen uns denn aus dieser Zeit vor? Mit welchem Textmaterial haben Sie also gearbeitet?

Gerichtsprozesse fanden damals schriftlich statt. Der Kläger oder die Klägerin verfasste ein Schreiben an das Gericht, das in der Regel in Form von Bittschriften formuliert war. Manchmal folgte dann ein Briefwechsel, schließlich sprach das Gericht Recht. Beklagt wurde darin beispielsweise starke Grausamkeit, oder auch ein zu hoher Preis, für den man verkauft wurde. Versklavte hatten damals die Möglichkeit, die eigene Freiheit zu erkaufen; der Betrag hing aber von dem eigenen Preis ab. Wenn dieser zu hoch angesetzt war, war es unmöglich, diesen Preis aufzubringen.

In welcher Zeit wurden diese Dokumente verfasst?

Im Jahr 1702 ist der erste Versklavte in Ecuador mit einem solchen Brief an ein Gericht herangetreten. Mein Material, das ich im Nationalarchiv in Ecuador vorgefunden habe, reicht bis ins Jahr 1849. Zwei Jahre später wurde dann die Sklaverei in Ecuador abgeschafft. Insgesamt standen mir Unterlagen von rund 400 Gerichtsprozessen zur Verfügung.

Wer verfasste diese Briefe? Die Versklavten selbst?

Die Briefe sind in der Ich-Form verfasst. Viele Versklavte waren aber vermutlich nicht der Schriftsprache mächtig. Meistens wissen wir also nicht, wer diese Briefe geschrieben hat. Wir gehen davon aus, dass es sich um Ego-Dokumente handelt, also Schriften, die mittelbar aus der Perspektive von Versklavten verfasst sind.

Hatten diese Briefe eine einheitliche Form?

Es gibt Abstufungen, aber fast alle dieser Texte sind tatsächlich ähnlich aufgebaut. In meiner Forschung habe ich mich intensiv mit den Diskurstraditionen in diesen Texten beschäftigt. Dazu gehören Fragen wie: Wie fängt man einen Brief an? Wie schließt man ihn? Besonders zum Ende hin sehen wir feste Formeln, die immer wieder verwendet werden: Der oder die Versklavte fleht und bittet, dass ihm Recht gewährt wird. Abseits davon ist aber besonders spannend, mit welchen inhaltlichen Traditionen argumentiert wird.

Zu welchen Erkenntnissen sind Sie hierzu gelangt?

Wir sehen in diesen Schriften wiederkehrende Topoi, also eine Art von Schlussregeln. Um ein Beispiel zu nennen: Jemand sagt, dass er von seiner Besitzerin schlecht behandelt wird. Der Versklavte nimmt dann Bezug auf sein Recht, dass hier eingegriffen wird und bietet auch eine Lösung, beispielsweise den Verkauf an jemand anderen, an. Ein solcher Topos steht oft im Hintergrund und nimmt in den Briefen immer wieder ähnliche Formen an. Für mich war es spannend zu sehen, wie sich Personen, die die schlechteste Position in einer Gesellschaft haben, vorhandene Strukturen zunutze gemacht haben, um im eigenen Sinne zu argumentieren. Sie haben das erlebte Unrecht in vorhandene Diskurstraditionen übersetzt, um damit Handlungsfähigkeit zu erreichen.

Mit den von Ihnen analysierten Dokumenten sind 150 Jahre abgedeckt. Ist – gegen Ende der Sklaverei hin – eine Entwicklung auszumachen? Treten die Versklavten vor Gericht in irgendeiner Form selbstbewusster auf?

Es gibt eine Wende gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Grausamkeit gegenüber Versklavten war zu Beginn des 18. Jahrhunderts vermutlich nicht weniger verbreitet als zu dessen Ende. Prozesse, die darauf Bezug nehmen, gibt es vermehrt aber erst im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Die Spanische Krone veröffentlichte verschiedene Erlässe und Gesetze, die mehr Schutz für die Versklavten vorsahen. Vieles davon wurde im Kolonialstaat dann nicht akzeptiert. Die Erlässe werden aber sehr wohl in den Prozessen zitiert, was uns zeigt, dass es ein Bewusstsein darüber gab, dass man diesen Missstand grundsätzlich vor dem Gericht thematisieren kann. Anhand der Dokumente aus dieser Zeit sieht man dann, dass die erlittene Grausamkeit im Rahmen der Diskurstraditionen ausführlicher geschildert wurde, mit intensivierenden Begriffen oder mit dem Aufbau von Kontrasten, wie beispielsweise dem Vergleich eines ganz geringen Vergehens, das mit grausamer Härte geahndet wurde.

Waren die Klagen immer individuell, oder gab es auch so etwas wie ein Gemeinschaftsbewusstsein der Versklavten, auf das Bezug genommen wurde?

Es wurde wohl in manchen Schriften das Joch der Sklaverei erwähnt, die Klagen waren aber immer individuell. Man stellte also eher die eigene erlittene Grausamkeit in den Fokus und weniger die Sklaverei überhaupt in Frage.

Blieb es auch in den späteren Briefen beim Bitten und Flehen, oder kamen Forderungen auf?

Der Ton und die Formulierungen blieben weiterhin bittend und flehend; das war aber auch bei der Gegenseite – den Sklavenbesitzenden – der Fall. Man wendete sich mit diesen Formeln an das Gericht.

Wissen wir aus diesen Unterlagen, wer die Prozesse gewonnen hat?

Das wissen wir nur relativ selten. Oft gibt es einen ausführlichen Briefwechsel, der sich über Jahre hinweg hinzieht und irgendwann 150 Seiten und mehr umfasst. Aus der historiographischen Literatur wissen wir, dass Prozesse zwar manchmal zugunsten der Versklavten entschieden wurden, das aber häufig nicht an kluger Argumentation, sondern an anderen Gründen festzumachen ist. Da gab es beispielsweise einen Richter, der eine offene Rechnung mit der Besitzerin von Versklavten hatte, oder andere Umstände, die dafür verantwortlich waren.

Zur Person



Jennifer Gabel de Aguirre ist assoziierte Professorin für romanische Sprachwissenschaft am Institut für Romanistik. Sie hat in Mainz und Dijon Romanistik studiert. Ihre Doktorarbeit hat sie an der Universität Freiburg abgeschlossen. Ihre Habilitationsschrift an der Universität Klagenfurt zu „Diskurstraditionen der Argumentation. Eine Korpusanalyse von Bittschriften der Serie ‚Esclavos‘ der ‚Corte suprema de quito‘ (1702-1849)“ erschien 2024 im Verlag De Gruyter. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Altfranzösische Philologie und Lexikographie, Diskurstraditionen und die Geschichte des Spanischen der Audienz von Quito. Aktuell beschäftigt sie sich vermehrt mit modernen Versionen der antiken Rhetorik zwischen Ethos und Pathos in öffentlichen Diskursen.