Helene Gattereder – Wann endlich kämpfen?

Helene Gattereder

Wann endlich kämpfen?

Seine Augen sind dunkel, sanft, wie seine Stimme. Er steht gerade da, die Hände wie immer am Rücken verschränkt steht er in der Tür zum Trainingsraum. Und während sie versucht, sich an ihm vorbei zu drücken, hört sie ihn sagen: „Wann wollen sie anfangen zu kämpfen, mit achtzig?“

Was hat er gesagt?

Er spricht schlecht Deutsch, aber sie hat es genau verstanden.

„Es ist so wichtig zu kämpfen, so viel Potential – und Sie wollen nicht kämpfen“!

 

Vor einer Woche war sie in seinem Büro und hat ihm mitgeteilt, dass sie die Freikampfübungen, die dreimal pro Woche zum Trainingsprogramm gehören, nicht mehr machen will.

„Ich mag nicht, gibt’s nicht“, hat er gesagt. Aber dann hat er ihr doch zugestanden: „Na gut, aber ab und zu doch“.

Dabei war sie grade so stolz auf sich, dem Großmeister ein Ich-Mag-Nicht entgegengesetzt zu haben. Fühlte sich stolz. Endlich nicht mehr so winzig, unwissend und verschreckt. Und jetzt das. Alles in ihr wird eng, wieder nicht durchgehalten, sie weiß ganz genau, sie wird nachgeben. Sie geht auf und ab wie in einem Käfig, dann fällt ihr endlich eine Antwort ein.

„So klein fühl ich mich, wenn ich das machen muss“, sagt sie und deutet die Größe mit Daumen und

Zeigefinger an. Aber das interessiert ihn herzlich wenig, und solche Sätze hört er sowieso nicht gern. Sein Körper zeigt ganz kurz Unwillen und Abwehr. Sie merkt das sofort, sie hat gelernt, auf solche Zeichen zu achten. Er wird aber gleich wieder sanft.

„Es ist so wichtig, zu kämpfen!“, betont er wieder.

Sie geht immer noch auf und ab, die Luft stoßweise und seufzend herauspressend. Dann ein Blick in seine Augen, ganz hinten das Lächeln, das sich jetzt auch bei ihr bemerkbar macht. Er hat ja recht. Wann werde ich wirklich anfangen zu kämpfen? Nicht verteidigen, kämpfen!

„Also gut, ich mach‘s wieder“, sagt sie. Warum tut sie so, als würde sie ihm einen Gefallen tun? Es ist ja wichtig für sie. Sie kann sich nicht beruhigen, immer noch rebelliert sie innerlich. Im Auto spricht sie mit sich selbst, weint und schläft dann auch schlecht.

„Wann wollen Sie anfangen zu kämpfen, mit achtzig?“

 

Wie war das damals?

Sie ist jetzt zwanzig Jahre alt, wohnt am Land. Der Bus fährt immer zehn Minuten nach der Stunde in die Landeshauptstadt. Vierzig Minuten dauert die Fahrt in jeweils eine Richtung, hin und zurück, in die Bezirksstadt sind es zwölf Minuten. Aber dort ist es das Gleiche. Jeder kennt jeden, kein ordentlicher Gesprächsstoff, kaum einer liest ein Buch und die ehemaligen Schulfreundinnen kennt sie kaum mehr. Sie war ja schon viele Jahre nicht mehr hier. Ihr Mann ist Vertreter, auch dann unterwegs, wenn es nicht geschäftlich ist. Mit Freunden, Kumpanen, mit Männern, die gerne trinken, was sie überhaupt nicht mag. Sie ist die ganze Woche allein mit dem Kind in dieser armseligen Behausung.

Zimmer, Küche, Wasser aus dem Ziehbrunnen, den sie vor der Kälte schon im Herbst einwintern muss und der dann doch einfriert und mühselig von ihr immer wieder mit heißem Wasser, das sie oben in die Öffnung beim Schwengel einfüllt, aufgetaut werden muss. Er ist ja nicht da, er fährt mit dem Firmenauto durch die Gegend, schläft in guten Hotels, bringt ab und zu fremde Damen- und komischerweise auch Herrenwäsche nach Hause. Sie tobt. Aber sie weiß ganz genau, sie wird, wie immer, nichts Ernsthaftes unternehmen.

Das Plumpsklo ist eigentlich kaum auszuhalten. Im Sommer stinkt‘s erbärmlich und im Winter friert einem der Arsch ab, wenn man erst durch den frisch gefallenen Schnee stapfen muss, um auf den grauslichen Brettern zu hocken. Und die Mäuse, die ihr durch Kratzgeräusche nachts schreckliche Angst einjagen bis sie endlich weiß, woher diese Geräusche kommen, sitzt sie vor dem Fenster, mit einem Messer in jeder Hand und wartet auf den vermeintlichen Einbrecher. Er muss ja nur einen großen Schritt machen, um über diese niedrige Mauer zu kommen. Alles ist feucht. Die Vorhänge frieren im Winter an der Schlafzimmermauer an. Die kann man erst im Frühling wieder in die richtige Stellung bringen, weil sonst ja alles reißt. Aber es glitzert immer schön, wenn man das Licht einschaltet.

Es ist Freitag, Mitternacht. Er ist wieder von seiner Wochentour zuerst zu seiner Mutter gefahren, hat Freunde getroffen und wird nach Alkohol riechen, wenn er nach Hause kommt. Wird mit ihr schlafen, weil sie glaubt, es ihm schuldig zu sein, weil er ja das Geld verdient und sie froh sein muss, so eine gute Partie gemacht zu haben. Angestellter, das ist schon was, und sie doch aus so einem Milieu kommt. Der Vater Knecht, die Mutter, ein abgelegtes Kind einer Vagabonda bei Bauern. Beide sind Kinder von nicht bekannten Vätern. Nicht nur die Kriegsjahre haben beide gewalttätig gemacht. Das Leben mit fünf Kindern auf Zimmer und Küche bringt schon eher die dunklen Seiten der Menschen zu Tage. Da sind dann Menschen, die zwar auch auf Zimmer und Küche aufwachsen, aber dafür Wasser und ein eigenes WC am Gang hatten, und nur zwei Kinder aufzogen, Privilegierte. Dazu kommt noch, dass er die Hauptschule besuchen durfte.

Nach einem Jahr kam es zum Umzug in eine kleine Wohnung in einem Schloss -Nebengebäude in der Stadt. Wieder Plumpsklo, aber im Haus unter der Stiege. Wieder Mäuse, die werden aber mit Schuhen, die vorsorglich vorm Schlafengehen am Nebenbett deponiert sind, vertrieben. Die Katzen warten schon jeden Morgen vor der Wohnungstüre auf die in den Fallen gefangenen Mäuse. Dann endlich. Eine richtige Wohnung. Dritter Stock, in Villach. Hell, klein aber mit Parkettboden, richtiger Küche, eigenes WC.

Astrid, das zweite Kind wird mit einem Herzfehler geboren, was man ihr aber erst sagt, nachdem sie beim Arzt vorstellig wird, wo denn die Vorladung zur Pockenimpfung bleibt. Die gibt’s nicht für dieses Kind, das hat einen Herzfehler.