Helene Gattereder – Bojazl

Helene Gattereder

Bojazl´s Reise nach Wien und nicht mehr zurück

 

Sie weiß ja, sie kann den Frauen von der Fürsorge nicht trauen. Die gut genährten, kräftigen Frauen. Die ihrer Tante, die im Dorf beim Fleischhauer als Dienstmädchen gearbeitet hat, ihr lediges Kind, das bei der Heli in ihrer Familie aufwächst, weggenommen haben. Wie sie in der Sonne neben dem Werkskanal von der Schule nach Hause geht, kommt ihr eine dieser Frauen mit der Kleinen am Arm entgegen. Die Kleine weint und streckt die Arme nach ihr aus, aber die Frau lässt sie nicht einmal das Kind angreifen. Der ledige Vater, bucklig, hässlich, und bei seiner Mutter lebend, hat das Kind beansprucht und bekommen.

 

Und jetzt schon wieder so was.

Ihr Vater, er ist aus dem Krieg als Blinder nach Hause gekommen, der nach der Scheidung in Wien mit einer anderen Frau lebt, hat jetzt zwei seiner fünf Kinder beansprucht. Sie muss mit ihrem großen Bruder nach Wien. Keiner hat sie gefragt, keiner hat ihr was gesagt. „Koffer packen, du fährst nach Wien und gehst dort in die Schule.“ „Jetzt, in den Semesterferien.“

Dann wurde noch schnell ein Foto gemacht, mit ihren Brüdern, hinter dem Haus im Schnee und ihrem Bojazl. Den hat sie im Sommer von der Freundin ihrer Mutter in Maria Saal, die auch Heli heißt, bekommen. Sie hat noch nie ein eigenes Spielzeug gehabt und deshalb liebt sie den natürlich sehr. Mit seiner roten langen Zipfelmütze, den Schlenkerbeinen und-Armen. Mit der schönen weißen Halskrause an Armen und Füßen. Alles Spitzenkrausen. Und sie gibt ihn keine Minute aus ihren Armen. Alle sind traurig, aber keiner weint. Nur Hansi ist den Tränen nahe. Er wird auch später leicht weinen und jung sterben.

Dann geht’s zum Zug. Mit einer Fürsorgerin. Sie ist diesmal aber jung, nett und hübsch.

Während der ganzen neunstündigen Fahrt nach Wien, spricht sie kein Wort. Steht die ganze Zeit am Fenster und schaut hinaus. Am Semmering ist Demarkationslinie. Die Russen kommen ins Abteil, sie fürchtet sich, sagt aber kein Wort.

Es ist Abend, als sie in Wien ankommen. Der Vater mit der neuen Frau holt sie beide ab. Vor dem Bahnhof ist ganz viel Licht, es leuchtet hell und es gibt viele kaputte Häuser.

In einem Vier-Familien-Gemeindehaus sind sie und ihr Bruder jetzt zu Hause.

Die Nachbarfamilie im gleichen Stockwerk hat zwei Buben. Der Vater ist ein bissl komisch. Sie denkt immer, er ist ein Russe. Der eine Bub hat ein schönes Buch, es handelt über Eisenbahnfahrten in alle Länder der Welt und wenn der Vater nach Hause kommt, dann bringt er immer Puppen mit. Er gibt ihr das Buch aber nur dann zum Lesen, wenn sie ihm dafür den Bojazl überlässt. Und als das Buch ausgelesen ist, gibt er ihr den Bojazl nicht mehr zurück.

Die Eltern streiten, Heli weint, aber der Bojazl bleibt für immer in der Nachbarwohnung.

Sie kriegt dann, an ihrem neunten Geburtstag eine Puppe. Sie hat Schlafaugen. Die aber bald stecken bleiben und damit dies nicht bemerkt wird, verschwindet die Puppe in einer Schachtel unterm Bett und wird zum Dauerschlaf verurteilt. Das fällt natürlich auf und wird schnell behoben. Ihre Brüder, die in den Ferien zu Hause sind, machen die Puppe dann ganz kaputt.

Das Zuhause in Wien gefällt ihr gut. Alles ist so sauber und sie hat schöne Kleider. In der Schule nimmt sie ihre Lehrerin einmal mitten aus dem Unterricht, sie gehen zum Direktor. Sie fürchtet sich, aber die Lehrerin will nur dem Direktor zeigen, wie gut sie lesen kann. Sie ist aber froh, als sie wieder in der Klasse war und nichts passiert ist.

In den Ferien darf sie mit ihrem Bruder wieder nach Hause. Sie dürfen aber nicht mehr zurück nach Wien, weil der Vater die Kinder nur gebraucht hat, um schnell und billig eine große Gemeindewohnung zu bekommen. Es war dann aber ein schöner Sommer mit Erika, Elke, Dagmar und den anderen, der einzige Sommer in ihrem Schulleben, den sie nicht bei einem fremden Bauer verbringen musste. Und das war sehr schön.