Epistemische Gewalt | Foto: Rosskothen/Fotolia

Gewaltiges Wissen

„Die Zeit der Kolonialität ist noch nicht vorbei“, so die Politologin Claudia Brunner. Sie arbeitet auf einer FWF-Elise-Richter-Stelle an einer Theoretisierung von epistemischer Gewalt.

„Aus europäischer Perspektive gelang Kolumbus 1492 die Entdeckung Amerikas. In Wahrheit handelte es sich um die Unterwerfung eines bevölkerten Kontinents“, erklärt Claudia Brunner (Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik). Anhand des Begriffs der „Entdeckung“ ließe sich illustrieren, worum es in ihrer Forschung geht: Sie beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Wissensproduktion und Gewalt in ihren vielfältigen Dimensionen.

Brunner erläutert dazu: „Wissen(schaft) und Gewalt werden in der Regel als völlig voneinander getrennt verstanden. Ich gehe von einer postkolonialen Perspektive aus, die aus Ländern des globalen Südens kommt. Dabei nimmt man an, dass die Entwicklung der Wissenschaften zutiefst mit der Herausbildung von asymmetrischen Verhältnissen verknüpft ist, die global und lokal bis heute wirksam sind.“

Die imperiale Expansion Europas hat eines bestimmten Wissens bedurft: Dazu gehörte beispielsweise ein Rassebegriff, um Menschen in Zivilisierte und Barbaren zu trennen, womit im Zusammenspiel mit der globalen Durchsetzung des kapitalistischen Modells eine bis heute wirksame Arbeits- und Ressourcenverteilung befestigt wurde. Unsere modernen, demokratischen Staaten westlicher Prägung haben demnach eine blutige Kehrseite. „Das wird aber in deren Selbstwahrnehmung als Speerspitze von Demokratie, Aufgeklärtheit und Fortschrittlichkeit ausgeblendet: So versuchen westliche Entwicklungs- oder auch Friedenspolitik noch immer, eurozentrische Paradigmen auf Länder des globalen Südens überzustülpen – und sichern dabei eher ihre eigenen Interessen als die der von Gewalt direkt Betroffenen.

Epistemische Gewalt, also Gewaltförmigkeit, die im Wissen selbst angelegt ist, ist tief im Wissenschaftssystem selbst verankert, und die Kolonialität des Wissens ist immer noch vorhanden: in eurozentrischen Theorien und Methoden ebenso wie in der zunehmenden Kommodifizierung und Monokulturalisierung von Wissen(schaft), die wir alle in unserem Alltag erleben.“

Brunners Projekt zielt auf eine Theoretisierung epistemischer Gewalt ab. Damit soll es erleichtert werden, die unsichtbaren Verbindungslinien zwischen Politik und Epistemologie, zwischen Gewalt und Wissen, zwischen Betroffenen und ProfiteurInnen globaler Gewalt- und Ungleichheitsverhältnisse zu benennen.

für ad astra: Romy Müller

 

Zur Person

Claudia Brunner, geboren 1972, ist Politologin und Friedensforscherin. Sie promovierte 2009 an der Universität Wien. Davor war sie DFG-Stipendiatin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2010 forscht und lehrt Brunner an der AAU, seit 2015 ist sie Assistenzprofessorin. Brunner ist Inhaberin einer Elise-Richter-Stelle. Das Exzellenzprogramm des FWF richtet sich an hochqualifizierte wissenschaftlich tätige Frauen, die eine Universitätskarriere anstreben.