„Gesetze müssen nicht gerecht, sondern sachlich sein.“
In einem Rechtsstaat regeln die Gesetze die staatliche Umverteilung etwa in Form von Abgaben oder durch Transfer- und Sozialleistungen. Im Gesetz manifestieren sich somit die vorherrschenden politischen Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit. Die Autorinnen und Autoren des kürzlich erschienenen Werks „Verteilungsgerechtigkeit im Recht“ gehen diesen Regelungen auf den Grund.
Was ist denn Gerechtigkeit im rechtswissenschaftlichen Sinn?
Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist hier eine gewisse Skepsis geboten. Recht kann nicht mit Gerechtigkeit gleichgesetzt werden. Die Antwort auf die Frage, was gerecht ist, ist häufig weltanschaulich beeinflusst. Als Rechtswissenschaftler frage ich nicht, was gerecht ist, sondern: Welche Vorstellungen von Gerechtigkeit kommen in der geltenden Rechtsordnung zum Ausdruck?
Wenn das Recht nicht Gerechtigkeit fordert – was fordert es sonst?
Das Verfassungsrecht verlangt sachlich gerechtfertigte Regelungen. Gesetze dürfen weder unsachliche Differenzierungen noch unsachliche Gleichbehandlungen vorsehen. Wenn es also Unterschiede im Tatsächlichen gibt, muss es auch Unterschiede in den rechtlichen Regelungen geben. Die Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit wird im Verfassungsrecht also gleichsam auf das Verbot einer sachlich nicht begründbaren Umverteilung reduziert. Bei all dem ist zu beachten, dass das Recht dynamisch ist. Die für die Umverteilung maßgeblichen Rechtsvorschriften, zu denen insbesondere das Steuer- und das Sozialversicherungsrecht zählen, werden immer wieder verändert und auch die sachliche Rechtfertigung bestimmter Regelungen kann im Laufe der Zeit unterschiedlich beurteilt werden.
Die Politik operiert aber sehr stark mit dem Begriff „Gerechtigkeit“.
In der Tat kommt das Wort „Gerechtigkeit“ in politischen Diskussionen häufig vor. Das dürfte auch mit der Unbestimmtheit dieses Begriffes zusammenhängen. Der Forderung, dass der Staat und seine Gesetze gerecht sein müssen, würden sich wohl weite Teile der Bevölkerung anschließen. Wenn es aber dann darum geht, wer welche Leistungen vom Staat erhält und wer die Rechnung für diese Leistungen zu bezahlen hat, gehen die Meinungen unweigerlich auseinander. Man könnte plakativ formulieren: Für Gerechtigkeit ist jeder. Was darunter im Einzelnen zu verstehen ist, darüber bestehen jedoch ganz unterschiedliche Ansichten.
Was gleich bleibt, ist in der Regel die Verfassung?
Aus juristischer Sicht stellt die Verfassung eine gewisse Konstante dar, weil Verfassungsrecht nur unter erschwerten Bedingungen abgeändert werden kann. Gesetze, die im Nationalrat mit einfacher Mehrheit beschlossen werden, müssen der Verfassung entsprechen. Wenn also ein unsachliches und somit verfassungswidriges Steuergesetz erlassen wird, kann dieses Gesetz beim Verfassungsgerichtshof bekämpft werden.
Können Sie ein Beispiel dafür nennen, wo sich die Verfassung auf Verteilungsfragen auswirkt?
Unter dem Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit ist etwa die Frage interessant, inwieweit der Gesetzgeber zur langfristigen Sicherung des Pensionssystems Leistungen für Personen kürzen darf, die sich schon in Pension befinden oder kurz vor dem Pensionsantritt stehen. Der Verfassungsgerichtshof hat dazu eine Rechtsprechungslinie entwickelt, die als Vertrauensschutzjudikatur bekannt geworden ist und die darauf hinausläuft, dass Reformen nicht überfallsartig erfolgen und auch nicht über ein gewisses Maß hinausgehen dürfen. Diese Judikatur hat zur Folge, dass der Gesetzgeber bei solchen Reformen zeitlich abgestufte Übergangsbestimmungen vorsehen muss, um den Betroffenen die Anpassung an die geänderte Rechtslage zu erleichtern. Nachteilige Änderungen, die aus budgetären Gründen notwendig werden, treffen daher vor allem die Jüngeren. Dies wird unter anderem damit begründet, dass Personen, die sich schon in Pension befinden oder nahe dem Pensionsalter sind, keine Möglichkeit hätten, sich auf die geänderten Umstände einzustellen. Man darf aber nicht übersehen, dass es auch für die von solchen Kürzungen betroffenen jüngeren Menschen angesichts schwieriger ökonomischer Rahmenbedingungen und der beträchtlichen Steuer- und Beitragslast oft unmöglich sein wird, die gesetzlich verfügten Verschlechterungen durch private Vorsorge zu kompensieren. Es bleibt daher im Ergebnis bei einer Umverteilung zu Lasten der Jüngeren. Man kann sich schon fragen: Ist das wirklich sachlich? Mit der Forderung nach Generationengerechtigkeit dürfte das jedenfalls nur schwer in Einklang zu bringen sein.
Wie können solche Fragen rechtswissenschaftlich analysiert werden?
Wir haben versucht, die Frage der Verteilungsgerechtigkeit im Recht aus der Perspektive unterschiedlicher rechtswissenschaftlicher Disziplinen, nämlich des Verfassungsrechts, des Steuerrechts, des Sozialrechts sowie des Finanzverfassungs- und Finanzausgleichsrechts darzustellen und zu analysieren. Außerdem haben Erkenntnisse der Rechts- und Sozialphilosophie sowie der Wirtschaftswissenschaften zu Verteilung und Verteilungsgerechtigkeit in die Arbeit Eingang gefunden. Im verfassungsrechtlichen Teil des Buches wird beispielsweise untersucht, inwieweit das Verfassungsrecht der gesetzlich normierten Umverteilung Grenzen setzt. Dabei hat sich gezeigt, dass vor allem die Grundrechte den Spielraum des Gesetzgebers beschränken. Außerdem wurde geprüft, ob und in welchem Ausmaß die Bundesverfassung staatliche Umverteilung gebietet. Es bleibt zu hoffen, dass die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion über das rechte Maß an Umverteilung leisten.
Bei der Umverteilung muss immer dem einen etwas genommen werden, das dann dem anderen gegeben wird. Wie verhält sich die Verfassung dazu?
Der Staat beschafft sich die für die Umverteilung erforderlichen Mittel vor allem im Wege von Steuern. Die Einhebung von Steuern stellt aber einen Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf Eigentum dar und muss daher verhältnismäßig sein. In der Praxis hat sich das Eigentumsgrundrecht in Bezug auf Steuern jedoch bislang als relativ zahnlos erwiesen. Vielmehr bildet nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes der Gleichheitssatz bzw. das daraus abgeleitete Sachlichkeitsgebot die wichtigste Schranke des Steuergesetzgebers. Meines Erachtens lassen sich aber auch aus dem Eigentumsgrundrecht relevante Beschränkungen des staatlichen Steuerzugriffs ableiten.
Hat der Privatmann Gerhard Baumgartner eine Definition von Gerechtigkeit?
Ich habe natürlich wie jeder andere auch Wertvorstellungen, die mein Verständnis von Gerechtigkeit prägen. Eine allgemein gültige Definition von Gerechtigkeit werden wir aber nicht finden. Denn letztlich handelt es sich um eine Wertungsfrage, die von den Menschen unterschiedlich beantwortet wird.
Vielen Dank für das Gespräch.
Baumgartner, G., Heinrich, J., Rebhahn, R. & Sutter, F. P. (2017). Verteilungsgerechtigkeit im Recht. Wien: Verlag Österreich GmbH.