Gegen das Hazardspiel

Die Mathematik ist häufig in der Rolle der Nemesis, wenn es darum geht, die Funktionalität von neuen technologischen Verfahren zu beurteilen. Die Mathematikerin Barbara Kaltenbacher erklärt, warum aber Zuverlässigkeit und Eindeutigkeit hoch im Kurs stehen sollten.

Die digitalisierte Welt wäre ohne Mathematik nicht denkbar, aber bleibt die Mathematik auch bei allen weiteren technologischen Entwicklungen so essenziell? Barbara Kaltenbacher ist sich dessen sicher und nennt als Beispiel das Machine Learning, das als Teilbereich der Künstlichen Intelligenz technische Systeme dazu befähigt, aus vorhandenen Informationen Muster zu erkennen und Lösungen für Fragestellungen dazu zu generieren. „In dem Bereich werden derzeit sehr viele Verfahren entwickelt und angewendet. Man arbeitet auf Hochdruck daran, allerlei schnell und effizient auszurechnen. Aber: Ist das, was da errechnet wird, wirklich zuverlässig der Realität entsprechend? Um dem nachzugehen, brauchen wir viel an Mathematik“, berichtet sie uns. Wir fragen nach, ob man dabei mit der Mathematik manchmal in der Rolle des Spaßverderbers im Hochgeschwindigkeitsbetrieb der Technologieentwicklung sei, und erfahren: „Ja, wir sind es durchaus gewohnt, diese Rolle zu spielen. Häufig müssen wir sagen: Ihr habt hier tolle Bilder und Ergebnisse geliefert, aber das kann auch alles ein großer Zufall sein.“ Für Kaltenbacher ist aber auch klar: Das Einfordern von Eindeutigkeit und Rekonstruierbarkeit ist – zumindest bei den inversen Problemen, die ihr mathematisches Steckenpferd sind – elementar, um zu wirklich „wahren“ Ergebnissen zu kommen.

Was typische inverse Probleme sind, erklärt Barbara Kaltenbacher anhand des Räuber-Beute-Modells: Nehmen wir ein System, das aus einer Population von Füchsen und aus einer Population von Hasen besteht, die in einem Wald gemeinsam leben. Nicht nur für den Förster stellt sich die Frage: Werden die Füchse irgendwann alle Hasen aufgefressen haben oder kommen mehr Hasen nach? Wie entwickelt sich das System? Diese Frage lässt sich mit mathematischen Gleichungen beschreiben. Dabei spielen nichtlineare Funktionen eine wesentliche Rolle, die die Entwicklung solcher Systeme beschreiben. Inversen Problemen ist eines gemeinsam: Es gibt eine Reihe von Informationen, vielleicht zu verschiedenen Messzeitpunkten (in dem Fall die Anzahl von Füchsen und Hasen), aus denen auf eine Entwicklung oder einen Zustand rückgeschlossen werden soll. „Solche Funktionen sind auf viele Phänomene unserer Zeit anwendbar. In meinem Bereich sind das eher technische Problemstellungen, zum Beispiel das Verhalten von Material unter Belastung. Auch in der Medizintechnik finden wir inverse Probleme, deren Lösung zum Beispiel bei der Bildgebung des Körperinneren nützlich sein kann“, erläutert Barbara Kaltenbacher. Gerade da sei eindeutige Identifizierbarkeit sehr relevant für die richtige medizinische Entscheidung; der Beweis von Eindeutigkeit sei aber häufig schwierig zu erbringen.

In Barbara Kaltenbachers Büro hängt eine Tafel, auf der sie mit Kreide einige Zeilen in mathematischer Sprache geschrieben hat. Nicht viel mehr als ein paar solcher Formeln ist häufig das Ergebnis ihrer Arbeit; der Beweis, dass das Erarbeitete auch funktioniert und uns der Berechnung einer „Wahrheit“ näherbringt, füllt aber oft ein oder mehrere Artikel in Fachzeitschriften. Der Weg dorthin ist jedoch nicht immer einsam, wie sie uns erklärt: „Ja, man sitzt viel mit sich allein, denkt scharf nach und schreibt Seiten voll. Oft überwindet man Hürden aber auch im Gespräch und Austausch mit anderen. Sie sehen oft Möglichkeiten, die man übersehen hat, oder haben von Lösungswegen gelesen, die man selbst nicht im Blick hatte.“

Barbara Kaltenbacher arbeitet in der angewandten Mathematik. Wenn sie Probleme in Angriff nimmt, wird häufig schon auf die Anwendung der Lösung gewartet. Ihr Fokus lag nie darauf, die großen mathematischen Vermutungen, an denen man sich schon seit Jahrzehnten die Zähne ausbeißt, in Angriff zu nehmen: „Sich solchen Fragen anzunehmen, ist sehr riskant. Wenn man zehn Jahre an einem Problem arbeitet und es letztlich doch nicht lösen kann, kann dies auch sehr frustrierend sein.“ Üblicherweise sei es aber so, dass auf dem Weg zu einem Ergebnis, oder auch zu einem Nicht-Ergebnis, viele wichtige Erkenntnisse „abfallen“, die andernorts wieder nützlich sein können. „Auch die Erkenntnis, dass etwas nicht möglich ist, kann hilfreich sein.“

für ad astra: Romy Müller