Gebärdensprache: Erst-, Zweit und/ oder Fremdsprache?
Zwei- oder Mehrsprachigkeit ist für viele Menschen, die die Gebärdensprache (GS) als Erst- oder Primärsprache nutzen, etwas Selbstverständliches, müssen sie sich doch meistens auch in der jeweiligen Laut- und Schriftsprache ihres Landes verständigen können. Das Erlernen der Lautsprache stellt GebärdensprachbenutzerInnen vor ganz unterschiedliche Probleme.
„Es ist ein Irrglaube“, wie Marlene Hilzensauer, Leiterin des Fakultätszentrums für Gebärdensprache und Hörbehindertenkommunikation (ZGH), erklärt, „dass jemand, der die Gebärdensprache spricht, automatisch auch die Lautsprache eines Landes beherrscht.“ Es handelt sich dabei um zwei eigenständige Sprachsysteme, die sich in Grammatik, Syntax und Vokabular stark voneinander unterscheiden und somit eigens erlernt werden müssen.
„Wünschenswert wäre es, wenn gehörlose Kinder von klein auf mit der GS als Muttersprache aufwachsen. Da aber nur rund 10 Prozent der gehörlosen Kinder auch gehörlose Eltern haben, ist dies meist nicht der Fall“, erläutert Hilzensauer. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe: einige Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder gebärden, anderen wiederum fehlen die Informationen dazu. Das führt dazu, dass manche Kinder erst in der Schule oder noch später die Gebärdensprache lernen, was wiederum das Erlernen der Schriftsprache erschweren kann.
„Neue Technologien wie Videotelefonie erleichtern zwar heutzutage die Alltags-Kommunikation, dennoch sind Schriftsprachen eine Voraussetzung, um in unserer Welt Zugang zu Bildung, Arbeit, Kultur und Kommunikation zu bekommen und somit die gleichen Chancen wie hörende Menschen zu haben.“ Hier setzen Projekte des ZGH, wie Deafli (www.deafli.com) bzw. auch „Deaf Learning“ (www.pzg.lodz.pl/deaflearning), an, die die Schriftsprachfähigkeiten Erwachsener mithilfe von Lernmaterialien und Multimedia-Angeboten verbessern sollen.
Beim Erlernen einer Laut- oder Schriftsprache stehen gehörlose Kinder und Erwachsene vor ähnlichen Herausforderungen wie hörende Menschen, zudem müssen aber noch andere Dinge beachtet werden, wie Hilzensauer ausführt: „Die visuelle Dimension der Sprache verlangt die volle Aufmerksamkeit der BenutzerInnen. Wird ihnen mittels GS etwas beigebracht, z. B. eine andere Sprache, können sie nicht mitschreiben und gleichzeitig den Gebärden folgen. Gerade in der Schule ist das für GS-BenutzerInnen problematisch.“
Die Schwierigkeit beim Erlernen einer Lautsprache liegt zudem in der für GS-BenutzerInnen abstrakten Ausdrucksweise der Lautsprache. In der deutschen Lautsprache heißt es beispielsweise: „Ich mache die Tür auf.“ GS-BenutzerInnen gebärden konkreter. Hier kommt es darauf an, ob ein Türknopf geöffnet wird oder eine automatische Tür, eine Schiebetür usw. So kann es einerseits beim Erlernen der Schriftsprache, aber auch beim Dolmetschen zu Verständigungsproblemen kommen. Zusätzlich ist der Einsatz der Mimik in der GS zentral, da sie grammatikalische Informationen kommuniziert.
Gebärdensprachen sind nicht international. „Die Sprachfamilien sind andere als in den Lautsprachen. Beispielsweise ist die Österreichische Gebärdensprache historisch eng mit der französischen verwandt, jedoch nicht mit der deutschen. Man beherrscht eine andere GS nicht automatisch, sondern muss sie erwerben wie eine Fremdsprache“, so Hilzensauer.
für ad astra: Katharina Tischler-Banfield
Zur Person
Marlene Hilzensauer ist Leiterin des Fakultätszentrums für Gebärdensprache und Hörbehindertenkommunikation (ZGH). Sie arbeitet neben der Lehre und der Gebärdensprachforschung an der Entwicklung von Lern- und Lehrmaterialien (für ÖGS bzw. mit ÖGS als Unterrichtssprache), insbesondere an Multimediasprachkursen für gehörlose Menschen.
Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) ist seit 2005 in Österreich als Sprache anerkannt und in der Bundesverfassung verankert. In Österreich leben rund 9.000 bis 10.000 gehörlose Menschen, deren Muttersprache bzw. bevorzugte Sprache die ÖGS ist. Dazu kommen noch ca. 500.000 schwerhörige oder spätertaubte Menschen.