Fast alle halten Neutralität hoch, aber nur wenige wissen, was sie bedeutet
Über 90 Prozent der Bevölkerung schätzt die Neutralität Österreichs, doch was genau Neutralität bedeutet und unter welchen Prämissen sie 1955 festgeschrieben wurde, darüber haben viele kein klares Bild. Die Militärpsychologin Rita Phillips, die am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft forscht und lehrt, hat gemeinsam mit dem Bundesministerium für Landesverteidigung nach den Neutralitätsverständnissen der österreichischen Bevölkerung gefragt.
„Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen“, so der Artikel 1 im Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955, wo es dann weiter heißt: „Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.“
Rita Phillips sieht in diesen Zeilen eine grundlegende Herausforderung: „Die Neutralität wird so breit definiert und ist gleichzeitig so weitreichend, dass sich sehr viel Interpretationsspielraum ergibt.“ Dieser wird anhand vieler aktueller politischer Debatten sichtbar: Kann Österreich mit der NATO im Rahmen der Partnership for Peace zusammenarbeiten? Kann sich Österreich zum Angriffskrieg Russland auf die Ukraine positionieren oder muss es sich heraushalten? War nicht schon der EU-Beitritt ein Verstoß gegen die Neutralität, weil damit auch eine gemeinsame Sicherheitspolitik einher geht?
Rita Phillips hat gemeinsam mit dem Bundesministerium für Landesverteidigung Österreicher:innen nach ihrem Neutralitätsverständnis gefragt. Umfragen zur Wahrnehmung der Neutralität ergeben seit vielen Jahren eine hohe Zustimmung: Über 90 Prozent in der allgemeinen Bevölkerung und rund 70 bis 80 Prozent bei unter 30-Jährigen bewerten die Neutralität als positiv. „Das Problem ist dabei, dass bei solchen Umfragen nur die Zustimmung zur Neutralität abgefragt wird. Wir vermuteten aber, dass die Konzepte, was denn nun unter der Neutralität verstanden wird, sehr verschwommen sind. Das sehen wir auch in der Wahlwerbung der Parteien, in denen jede Partei ihre Definition als ‚wahre‘ Neutralität darstellt. Wir haben in unserer Untersuchung nun bei Personen unterschiedlichen Alters und unterschiedlichen Hintergründen durch offene Fragen erfasst, wie Neutralität definiert ist“, so Rita Phillips.
Insgesamt langten vollständig ausgefüllte Fragebögen von 343 Personen ein. Die meisten Personen verwendeten eine Definition, die nur militärisch war (56 %), sich also zum Beispiel darauf bezog, dass Österreich keine Soldat:innen in Kriege schicken kann. Die restlichen 40 Prozent der Antworten teilten sich in ähnlichen Verhältnissen in die Kategorien politische Neutralität, Mischung aus politischer und militärischer Neutralität, Neutralität als Fake (wir haben gar keine richtige Neutralität mehr) sowie Sonstiges auf. Verknüpft man nun unterschiedliche Variablen miteinander, kommt Rita Phillips zur Erkenntnis: „Wie sehr man Neutralität wertschätzt und sie als effizienten Schutz vor Angriffen versteht, kommt darauf an, wie man sie auf individueller Ebene definiert. Wenn man meint, dass die österreichische Neutralität wichtig ist, und man der Meinung ist, dass sie auch schützt, wird die ganzheitliche Sichtweise in Form einer Mischung zwischen politischer und militärischer Neutralität häufiger angegeben.“
Erhoben wurde auch der Wissensstand der Befragten, wie die Neutralität entstanden ist. Erstaunlich ist hier: Rund 76 Prozent der Befragten gaben falsche Gründe zur Entstehung an oder wussten keine korrekte Antwort. Rita Phillips stellt auch dazu Bezüge her: „Jenen, die die korrekten Entstehungsgründe angegeben haben, war die Neutralität signifikant wichtiger; sie meinten jedoch, dass die Neutralität weniger schütze. Diese Gruppe hatte einen signifikant längeren Bildungsweg als jene, die falsche Gründe angaben. Die Entstehung der Neutralität wird in unseren Bildungsinstitutionen also gut vermittelt und trägt zur Wichtigkeit, aber auch zum Zweifel bezüglich des Schutzes der Neutralität bei.“
Aus den Studienergebnissen ließen sich auch Konsequenzen für die politische Debatte ziehen, so Rita Phillips: „Der Neutralitätsbegriff kommt häufig mit einem protective gloss daher. Sie wird oft als schöner goldener Umhang verstanden, der vielfach auf Oberflächlichkeiten beruht. In der Wahlwerbung sehen wir überzeichnete Bilder, die emotionalisieren und polarisieren. Angesichts der aktuellen Krisen ist es aber sinnvoll, die Neutralität auf einem sachlichen Boden konkreter zu definieren. Wir müssen uns zukünftig zu möglichen Bündnissen wie einer EU-Armee verhalten und müssen im Bedarfsfall eines Angriffs wissen, was zu tun ist. Das Problem ist, dass wir aktuell dafür keine Strategie haben. Die Basis dafür wäre eine Definition von Neutralität, die von möglichst vielen getragen wird und vor den aktuellen Herausforderungen bestehen kann.“