Emotionen sind etwas unglaublich Soziales

Wie entsteht aktuell „Dringlichkeit“ rund um die Verbreitung des Coronavirus, und wie gehen wir damit um? Die Kulturanthropologin Alexandra Schwell beschäftigt sich mit Sicherheitsforschung und hat mit uns darüber gesprochen, wie sie die aktuelle Situation wahrnimmt.

Das Interview wurde am 13. März geführt und veröffentlicht.

Wie geht es Ihnen, Frau Schwell?

Mir geht es gut, danke. Ich war heute Morgen im Supermarkt und habe gesehen, dass viele Hamsterkäufer*innen unterwegs waren. Obwohl ich eigentlich nicht von der Panik erfasst bin, habe ich dann doch festgestellt, dass ich nicht die letzte sein will, die vor dem leeren Klopapierregal steht. Daher habe ich dann doch eine Einkaufsliste geschrieben.

Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit Dringlichkeit und Ausnahmezuständen. Ist das, was sich derzeit abspielt, auch in der Theorie so abgebildet?

Mich überrascht nicht, welche Stadien wir nun durchlaufen. Blicken wir auf die letzten Wochen: Zuerst haben wir alle nach China geschaut und dies als anderer Leute Dringlichkeit eingestuft. Witze wurden gemacht. Langsam entstanden Tendenzen, Menschen mit asiatischem Aussehen zu diskriminieren, was ein äußerst unschöner Effekt war. Damals fühlte man sich weitestgehend nicht betroffen. Dann rückte das Virus näher und kam nach Italien. Und mittlerweile ist das Problem bei uns zuhause angekommen.

Wie bewerten Sie die aktuelle Situation in Österreich?

Derzeit befinden wir uns eindeutig im Risikomodus. Wenn die handelnden Akteur*innen eine bestimmte risikoreiche Situation einschätzen müssen, haben sie eine Idee davon, wohin dieses Szenario führen wird. Davon ausgehend werden Prozedere erarbeitet, Verantwortlichkeiten definiert, Ressourcen überblickt. In diesem Stadium befinden wir uns derzeit. Die getroffenen Maßnahmen sollen dazu führen, dass wir nicht den Punkt eines totalen Ausnahmezustandes erreichen. Als Krise bezeichnen wir Sicherheitsforscher*innen den Punkt, an dem die Situation kippen kann und Gefahr läuft, nicht mehr steuerbar zu werden. Dann hat man auch kein Szenario in der Zukunft mehr vor Augen, an dem man die Handlungen ausrichten kann.

Die kommunizierten Maßnahmen machen der Bevölkerung zunehmend klar, wie dringlich das Problem ist. Wie definieren Sie Dringlichkeit?

Wenn ich eine Sache als dringlich definiere, schreibe ich ihr einen bestimmten Wert zu. Ich muss demnach jetzt etwas tun, damit ein bestimmtes Zukunftsszenario nicht eintritt. Ich stelle also einen Bezug zwischen der Gegenwart und der Zukunft her. Wie diese Zukunft jedoch genau aussieht, das kann nur Gegenstand von mehr oder weniger elaborierten Prognosen und Spekulationen sein. Zukunftsszenarien können sich unterschiedlichen Akteur*innen auch ganz unterschiedlich darstellen. In meiner Forschung interessiert mich diese Unsicherheit, weil in diesen Zeiten üblicherweise die Verschwörungstheorien, die Horrorszenarien, die kollektiven Phantasien aufkommen. Und wir kommunizieren mehr als sonst darüber.

Woher kommt das starke Kommunikationsbedürfnis?

Dringliche Probleme beschreiben oft Angstszenarien. Eigentlich sind die aktuellen Maßnahmen ja recht nüchtern, aber weil man sie mit einer unsicheren Zukunft verbindet, sind sie emotional aufgeladen. Niemand weiß, was passieren wird. Das befördert die Phantasie. Mit den Emotionen möchte man dann nicht alleine sein, sondern sie in Relation zu anderen Einschätzungen setzen. Wenn alle aus meinem Umfeld sagen: „Es gibt genug Lebensmittel in den Supermärkten, du brauchst nicht hamstern“, wird es mir auch anders ergehen, als wenn sich die Schreckensszenarien verbreiten. Emotionen sind etwas unglaublich Soziales. All das hat in der Regel relativ wenig mit der Faktenlage zu tun.

Wie lange können wir so einen Zustand ertragen?

Solange die grundlegenden Bedürfnisse gestillt sind, können wir in diesem Zustand verbleiben. Was leiden könnte, ist die Solidarität. Die Frage ist, inwiefern schwächere Personen und Menschen mit weniger Möglichkeiten eine Unterstützung erfahren. Die aktuellen Maßnahmen und die Definition einer Dringlichkeit passieren aber nicht nur aufgrund des Schutzes der Gesundheit, sondern damit werden auch andere Anliegen verfolgt: Beispielsweise wird die Arbeit der Behörden erleichtert, wenn die Menschen zuhause bleiben. Auch die Ressourcen des Staates werden damit geschützt.

China ist ein zentralistischer Staat. Dort ist es nun gelungen, den Virus einzudämmen. Ist unser Staatssystem gleichermaßen gut für die Krisenbekämpfung geeignet?

Die Antwort auf die aktuelle Situation kann sicher nicht sein, autoritäre Systeme einzuführen. Unsere Demokratien mit den mündigen Staatsbürger*innen sind gut gerüstet, mit der aktuellen Situation umzugehen. Die aktuelle Bedrohungslage ist aber insofern nicht objektiv, als wir auch nicht in allen Ländern dieselben Reaktionen darauf sehen. Die Zahlen halten uns Fakten vor Augen, sie können aber unterschiedlich interpretiert werden. In Deutschland ist man beispielsweise noch deutlich zurückhaltender als in Österreich.

Der Virus interessiert sich aber nicht für Grenzen, dennoch werden diese aktuell vielerorts geschlossen.

Ja, wir sehen momentan eine starke Nationalisierung. Wir leben in Zeiten der Globalisierung und der internationalen Vernetzung, was auch die Verbreitung des Virus begünstigt hat. Die Antworten sind vielfach national, auch in Bezug auf eine Re-Nationalisierung von Identitäten: Wir Italiener*innen oder wir Österreicher*innen müssen zusammenhalten.

Können wir aus der aktuellen Situation für andere kritische Bereiche wie den Klimawandel lernen?

In Bezug auf den Klimawandel fragen sich aktuell viele: Warum ergreifen wir zur Eindämmung des Coronavirus so starke Maßnahmen und warum war das beim Klimawandel bisher nicht möglich? Ich bin aus der Perspektive meiner Forschung sehr gespannt, wie sich die Lage aktuell weiterentwickelt, aber auch, was wir aus dieser Situation für die Zeit nach Corona mitnehmen werden.

 

 

Zur Person

Alexandra Schwell ist Professorin für Empirische Kulturwissenschaft am Institut für Kulturanalyse der Universität Klagenfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Anthropologie des Politischen, Border Studies, Emotion und Affekt, Institutionen und Bürokratien sowie Sicherheitsforschung.

Alexandra Schwell | Foto: aau/photo riccio