Eine Gesellschaft, die auf sich achtet
Sylke Andreas forscht im Bereich der Psychotherapie. Die zunehmende Rücksichtslosigkeit der Menschen untereinander macht ihr Sorgen. Ihre Vision ist eine reflektierte Gesellschaft, die aufeinander eingeht, ohne die Grenzen der anderen zu verletzen.
Welche Faktoren tragen zur psychischen Gesundheit von Menschen bei? Das ist eine der Fragen, die Sylke Andreas antreibt. Psychische Gesundheit ist für sie eine Wechselwirkung aus den unterschiedlichsten Komponenten. Sie berichtet uns aus ihrer beruflichen Erfahrung: „Wir wissen, dass soziale Unterstützung ganz wichtig ist. Menschen, die in Familie und Gesellschaft eingebunden sind, also Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben, sind psychisch gesünder. Auch körperliche Krankheiten und psychische Lebensqualität hängen ganz offensichtlich zusammen. Und natürlich spielt auch das Gewordensein der jeweiligen Menschen, also die Bedingungen, die sie zum Aufwachsen vorfinden, eine Rolle.“
Auch Traumata haben auf die psychische Gesundheit erhebliche Auswirkungen. Für Sylke Andreas ist klar: Traumatische Erlebnisse wie sexueller Missbrauch und andere Formen von Gewalt prägen das gesamte Erwachsenenleben. Welche Rolle das genetische Material für die Vulnerabilität gegenüber psychischen Krankheiten spielt, erklärt Andreas so: „Natürlich spielt es eine wesentliche Rolle, mit welcher genetischen Prädisposition jemand auf die Welt kommt. Nicht jeder, der ein Trauma erlebt, wird im Erwachsenenalter psychisch krank, jedoch liegen die Wahrscheinlichkeiten dafür höher.“ Andreas bekräftigt noch einmal: Je stabiler die Lebensumstände und die Familienverhältnisse sind, je gefestigter der soziale und finanzielle Status, je mehr gesellschaftliche Teilhabe jemand hat, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, das Leben in guter psychischer Gesundheit zu meistern.
Warum nehmen in unserer Gesellschaft psychische Erkrankungen immer mehr zu? Andreas erklärt sich das einerseits mit dem gestiegenen Wohlstand: Je besser es einer Gesellschaft geht, umso mehr dürfen Depressionen und Angstzustände auch offen zugelassen werden. Andererseits sieht sie auch einen hohen Zusammenhang mit alltäglichen Stressbelastungen: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der alles auf ‚höher, schneller, weiter‛ getrimmt ist. Natürlich kann es da zu einer Schräglage der psychischen Gesundheit kommen. Auch die Digitalisierung mit ihrer ständigen Erreichbarkeit und hohe berufliche Anforderungen spielen eine Rolle.“
Die Digitalisierung ist inzwischen ein Aspekt des täglichen Lebens. Uns interessiert, ob sie auch Positives für die psychische Gesundheit mit sich bringen kann. Andreas ist davon überzeugt und erzählt uns von einem Forschungsprojekt, das sie derzeit betreut. Teil des Projekts ist es, eine App zu entwickeln, die in der Zeit zwischen den Psychotherapiesitzungen eingesetzt werden soll. Derzeit läuft gerade die Pilotierung. Sylke Andreas betont: „Das ist in unserem psychoanalytisch-psychodynamischen Bereich etwas ganz Neues.“
Bei so viel Dynamik und Pioniergeist fragen wir Sylke Andreas, was ihr an der derzeitigen Situation der Psychotherapie in Österreich missfällt. Es ist vor allem die Kostenübernahmesituation für psychische Erkrankungen in Österreich, die sie gerne ändern würde. Sie wünscht sich eine Gleichstellung von psychischen und körperlichen Krankheiten. Eine Kostenübernahme sollte ihrer Meinung nach eine Selbstverständlichkeit sein, gerade deshalb, da die Psychotherapie ein wirksames Instrument sein kann, um Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren, sie arbeitsfähig zu machen und Krankheitsausfälle zu reduzieren. Sie bekräftigt: „Die Psychotherapeuten und -therapeutinnen machen sehr gute Arbeit an der Stelle, deshalb wäre es so wünschenswert, dass das gelingt.“
Außerdem stellt sie sich die Frage, wie die Parameter der Wirksamkeit von Psychotherapie weiter beforscht werden können. Wir haken nach, und Sylke Andreas berichtet, dass es eine große Bandbreite von Faktoren gibt, die noch ungeklärt sind. Die Frage, „was wirkt in der Psychotherapie wie“, muss dringend weiter beforscht werden. Andreas dazu: „Das ist ganz spannend. Ein paar Faktoren sind durch unzählige Studien gesichert. Der bestuntersuchte Faktor ist die therapeutische Beziehung, aber wir haben einen riesigen Varianzanteil, der nicht aufgeklärt ist. Und da gehören zum Beispiel auch die Prozesse dazu, die zwischen den Sitzungen passieren, da wissen wir fast noch gar nichts. Hier gibt es noch ein enormes Betätigungsfeld für die Forschung.“ Außerdem möchte sie ergründen, welche Bedürfnisse die Patientinnen und Patienten an die jeweiligen TherapeutInnen haben. Hier treibt sie die Frage „was wirkt bei wem“ an. Andreas erläutert: „Es gibt unzählige Psychotherapieverfahren, die alle ihre Berechtigung haben. Wir müssen herausfinden, welches Verfahren einem konkreten Patienten, einer konkreten Patientin am besten weiterhilft. Das ist eine große Herausforderung für die Forschung. Erste Studien dazu laufen schon.“
für ad astra: Annegret Landes