Die Weisheitsforscher:innen vor dem Elefanten: Artikel stellt integratives Modell weisen Verhaltens vor
Weisheit ist kompliziert, das wissen Weisheitsforscherinnen und -forscher schon lange. Sie beinhaltet emotionale und kognitive Aspekte gleichermaßen. Betroffen sind also Bereiche, die in der Psychologie üblicherweise voneinander getrennt behandelt werden. Das führt dazu, dass die Weisheitsforschung mitunter zu gegensätzlichen Erkenntnissen kommt, weil auch die Messmethoden unterschiedlich sind. Judith Glück (Universität Klagenfurt) und Nic M. Weststrate (University of Illinois Chicago) ist es gelungen, in einem Artikel im hoch renommierten Journal Personality and Social Psychology Review ein neues integratives Modell weisen Verhaltens vorzustellen. Das Paper wurde nun mit dem George A. Miller Award 2024 der Division 1 der American Psychological Association ausgezeichnet.
Der Titel Ihres nun ausgezeichneten Artikels lautet „The Wisdom Researchers and the Elephant: An Integrative Model of Wise Behavior“. Wie kommt der Elefant zur Weisheitsforschung?
Es gibt eine alte Geschichte aus Indien, in der eine Gruppe blinder Männer lernt, was ein Elefant ist, indem sie ihn berühren. Weil der Elefant groß ist, kann jeder Mann nur einen Teil berühren. Sie machen sich dann ihre Vorstellungen vom Elefanten als Ganzes anhand der jeweiligen Teile. Infolgedessen sind ihre Beschreibungen des Elefanten sehr unterschiedlich. In anderen Worten: Menschen neigen dazu, komplexe Konzepte auf der Grundlage der Teile zu definieren, mit denen sie am meisten vertraut sind. Auf diese Weise haben sich Forscher:innen mit unterschiedlichen Hintergründen auf verschiedene Aspekte des komplexen Konstrukts der Weisheit fokussiert. Derzeitige Weisheitsmodelle konzentrieren sich entweder auf kognitive Komponenten, wie reichhaltiges Selbst- und Lebenswissen oder Selbstreflexion, oder auf Persönlichkeitskomponenten, wie Mitgefühl oder Offenheit. Das von uns vorgeschlagene Modell ist das erste, das diese beiden großen Bereiche – den „Kopf“ und das „Herz“ des Elefanten – integriert, indem es argumentiert, dass beide für weises Handeln im wirklichen Leben erforderlich sind.
Kommt das eine zuerst und das andere später, also beispielsweise das Herz vor dem Kopf?
Wir wissen, dass Weisheit von Situation zu Situation stark variiert. Es kann also sein, dass wir manchmal weise sind und manchmal nicht. Spannend ist also die Frage, woran das liegt. Eine Antwort darauf ist, dass der emotionale Status nicht immer gleich ist. Wenn man gerade entspannt, offen, mitfühlend und positiv ist, kann man verhältnismäßig leichter weise Dinge sagen und tun. Ist man aber selbst in einen Konflikt stark involviert, ist das ungleich schwieriger. Wir gehen also davon aus, dass der emotionale Zustand entscheidend ist, um Wissen und weises Denken überhaupt nutzen zu können.
Situationen, in denen man Weisheit braucht, sind aber häufig emotional herausfordernd, oder?
Ja, dabei handelt es sich häufig um schwierige Situationen, die wichtig und kompliziert sind und für die es keine klare Lösung, dafür aber umso mehr Unsicherheit gibt. In diesen Momenten braucht man Weisheit, es ist aber besonders schwierig, theoretisches Wissen, das man hat, zu nutzen, weil man beispielsweise emotional überfordert ist.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Klassiker aus dem Berliner Weisheitsparadigma ist folgende Situation: Ein 15-jähriges Mädchen möchte sofort von zuhause ausziehen. Was tut man in dieser Situation? Es gibt kluge Menschen, die viel über die Pubertät und die Herausforderungen dieser Lebensphase sagen können. Das bedeutet aber nicht, dass sie, wenn die eigene Tochter betroffen ist, weise damit umgehen würden. Es gibt viel Forschung dazu, die zeigt: Je stärker man emotional betroffen ist, je stärker Gefühle von etwa Wut oder Angst im Spiel sind, desto schlechter kann man weise Entscheidungen treffen.
Was lässt sich daraus für die Kompetenzen von weisen Menschen schließen?
Menschen, die ihre Emotionen besser regulieren können, sich in andere einfühlen können, offen sind und nicht nur an der Maximierung des eigenen Profits interessiert sind, tun sich leichter, auch in schwierigen Situationen in einem mentalen Zustand zu bleiben, der es ihnen ermöglicht, kognitiv weise zu handeln. Nur wenn man emotional stabil bleibt, kann man das Wissen, das man hat, optimal nutzen.
Welches Wissen ist das?
Einerseits wissen weise Menschen mehr über das Leben. Zu diesem Wissen gehört aber auch dazu zu wissen, was man nicht weiß: Andere können die gleiche Situation ganz anders erleben und einschätzen und das ist auch legitim. Man kann auch darüber nachdenken, warum bestimmte Situationen gewisse Gefühle in einem hervorrufen. Und vieles kann man nicht wissen oder nicht beeinflussen, weil es unkontrollierbar ist. Weise Menschen haben Wissen und wissen auch um ihr Nicht-Wissen. Dazu gehört auch die Selbstreflexion: die eigenen Denk- und Handlungsweisen kritisch zu hinterfragen.
Kann man diese Kompetenzen lernen?
Zu einem gewissen Grad kann man Weisheitskompetenzen wie Emotionsregulation oder Empathie lernen oder trainieren. Viel lernen wir auch als Kind über unsere frühen Bindungserfahrungen. Betrachtet man aber diese Fragestellungen auf einer Systemebene, muss man sich auch fragen: Was hindert uns daran, in der Welt, wie sie momentan aufgestellt ist, weise zu handeln? Wir werden rasch feststellen, dass wir in der politischen Debatte, in den medialen Diskursen, im Gesundheits- oder Bildungssystem viel Weisheitshinderliches finden. Aspekte davon sind Zielsetzungen, die mit Weisheit nicht vereinbar sind, aber auch eine starke Emotionalisierung.
Musste Ihr integratives Modell auch Punkte offenlassen oder konnten Sie alle Fragestellungen abdecken?
Vieles ist natürlich viel komplizierter und wird sich vielleicht nie vollständig in Modellen abbilden lassen. Wenn wir beispielsweise auf den Schritt vom weisen Denken zum weisen Handeln blicken, ist vieles noch offen. Außerdem ist die These „zuerst das Herz, und dann der Kopf“ auch nicht auf alles umzulegen, beeinflusst doch auch das Denken die Emotionsregulation. Wie gesagt, Weisheit ist kompliziert.
Zur Publikation und zum Preis
Glück, J. & Weststrate, N.M. (2022). The wisdom researchers and the elephant: An integrative model of wise behavior. Personality and Social Psychology Review, 26(4), 342–374. https://doi.org/10.1177/10888683221094650.
Der George A. Miller Award wird jährlich für einen herausragenden Artikel verliehen, der in den letzten drei Jahren veröffentlicht wurde und Literatur aus den Teilbereichen der Psychologie und verwandten Gebieten integriert. Die Gewinner:innen werden bei der jährlichen Tagung der APA Convention (American Psychological Association, 2024 von 8. bis 10. August in Seattle) präsentiert.
Zur Person
Judith Glück, geboren 1969, hat an der Universität Wien Psychologie studiert und dort ihr Doktorat abgeschlossen. Von 1999 bis 2002 war sie Postdoctoral Research Fellow für Lifespan Psychology am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Nach der Habilitation im Jahr 2002 kehrte sie als außerordentliche Professorin für Entwicklungspsychologie an die Universität Wien zurück. Seit 2007 ist sie Professorin für Entwicklungspsychologie am Institut für Psychologie der AAU. Sie hat mehrere große Forschungsprojekte zu Weisheit geleitet, unter anderem gefördert vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF.