Die Grautöne des Krieges
Die Motive und Ursachen eines Krieges sind selten eindimensional, so die Germanistin Sabine Seelbach, die im Frühsommer zu einer Tagung zum „Dreißigjährigen Krieg“ einlud. Der Krieg, der vor 400 Jahren mit dem Prager Fenstersturz seinen Anfang nahm und dann den Großteil Europas in seinen Bann zog, wird heute als Religionskrieg interpretiert. Sabine Seelbach möchte mehr Graustufen in die einseitige Schwarz/Weiß-Sicht bringen und bezieht sich dabei auch auf das aktuelle Kriegsgeschehen wie im Nahen Osten.
Von 1618 bis 1648 war fast ganz Europa in den Dreißigjährigen Krieg involviert. Die Geschichtsbücher erzählen primär von einem Religionskrieg zwischen Protestanten und Katholiken. Inwiefern ist dieser Blick richtig?
Der Dreißigjährige Krieg wurde spätestens in der Nachfolge von Friedrich Schiller, der eine große Abhandlung darüber geschrieben hat, als Religionskrieg gesehen. Wenn man allerdings genauer hinschaut, ist das eine sehr schlichte Erzählung, die nicht dazu angetan sein kann, eine lineare Erklärung für die Geschehnisse zu geben. Nehmen wir als Beispiel den Prager Fenstersturz, der Auslöser der kriegerischen Handlungen war. Die Ursachen dafür liegen in der restriktiven Politik Habsburgs gegenüber den protestantischen Ständen, vor allem in Böhmen. Wenn wir aber genauer auf die Rädelsführer hinsehen, erkennen wir das Moment einer persönlichen Kränkung. Graf Heinrich von Thurn wurde die Funktion als Burggraf von Karlstejn entzogen, nachdem er sich bei der Abstimmung für den neuen böhmischen König gegen den Habsburger Ferdinand entschieden hat. Dieses Amt als Burggraf von Karlstejn ist hoch symbolisch, hütet er doch die böhmischen Kronjuwelen. Von Thurn wurde dafür abgestraft und ersetzt durch den erzkatholischen Jaroslav von Martinic. Ein Schelm, der Böses dabei denkt, warum nun von Thurn den von Martinic aus dem Fenster wirft.
Eine persönliche Kränkung als Auslöser eines Krieges, der mit Hungersnöten und Seuchen dieser Zeit ganze Landstriche entvölkern sollte, ist aber ein denkbar unheroisches Narrativ, oder?
Ja, natürlich wird die Religion und die Glaubensfreiheit, also etwas symbolisch Großes, als Legitimation des aktiven Tuns herangezogen. Das Beispiel zeigt, dass das Grundparadigma Religionskrieg doch zu hinterfragen ist zugunsten einer ganzen Vielfalt dynastischer Interessen und persönlicher Ambitionen von beschränkter temporärer Gültigkeit. Viel von dem, was historisch passiert, ist, weil es an Personen gebunden ist, dem Zufall anheimgegeben.
Heute sind Kriege auch professionelle PR-Ereignisse, die darauf zugeschnitten sind, das Volk für die militärischen Auseinandersetzungen im weitesten Sinne zu motivieren. Inwiefern war das vor 400 Jahren nötig?
Damals war es kein Problem, das Volk zu motivieren, wie es heute in vielen Regionen der Welt auch nicht der Fall ist. Halten wir uns den demographischen Hintergrund vor Augen: Um 1500 kam es nicht zuletzt aufgrund der Vernichtung geburtshelferischen Wissens in den Staaten Europas zu einer Geburtenexplosion. Die Bevölkerung hat sich verdoppelt oder gar verdreifacht. Die Gesellschaft ist aber nicht in dem Sinne mitgewachsen, dass für all diese Menschen auch innerhalb des sozialen Positionengitters ein Ort zugewiesen werden konnte. Wir haben also einen Riesenüberschuss von fünften, sechsten, siebenten oder gar mehr Söhnen, für die es keine Perspektive gab und deren Ambitionen keinen Raum gefunden haben. Auch die einfache Versorgung wurde zum Problem. Thomas Hobbes hat später geschrieben, wie gut der Krieg noch jeden jungen Mann durch Heldentod oder durch einen ehrenvollen Sieg versorgen kann. Insofern war der Krieg auch ein Geschäft. Diese Situation sehen wir heute auch im Nahen Osten, wo es eine ähnliche demographische Aufrüstung gibt, die man sich kaum vorstellen kann.
Welche Rollen spielten damals die Medien?
Sie sind das sensibelste Textmedium. Wir beschäftigen uns auch mit Wochenzeitschriften, den Periodika, und Tageszeitungen, da man durch sie ganz engen Kontakt mit dem Zeitgeschehen und seiner Bewertung gewinnt. Damals wie heute war es für die Zeitungsmacher schwierig, das Einzelereignis in den historischen Entwicklungsbogen einzuordnen und dabei möglichst objektiv zu berichten. Diese Verantwortung sah man schon in dieser Frühzeit.
Inwiefern brauchten die Soldaten eine große Erzählung, um Leib und Leben in den Schlachten zu riskieren?
Interessanterweise waren die großen Narrationes gar nicht erforderlich, sondern man beobachtet anhand von Tagebüchern ehemaliger Söldner, dass es vielen egal war, unter welcher Fahne sie gekämpft haben. Das ist weit weniger heldenhaft und durch religiöse Motive gesteuert, als man angesichts der Meistererzählungen annimmt. Überhaupt ist es ein Problem, diesen romantischen Schleier vom Geschehen wegzunehmen.
Gab es in der Literatur überhaupt die Mittel, um einen unromantischen Blick auf die Kriegshandlungen zu werfen?
Nein, das wäre von der poetologischen Seite her gar nicht möglich gewesen. Kriege gehörten vom Gegenstand her in das genus grande der Tragödie. Das, was in der Antike bei Homer das Donnern des Zeus war, ist nun sehr profan das Donnern der Kanonen. Angesichts der Technisierung und der Modernität des Krieges stand man vor neuen literarischen Herausforderungen. Man beschränkte sich also vor allem auf die Heroisierung einzelner Feldherren.
Wo fand das Kriegstrauma des Einzelnen seinen Ausdruck?
Das 17. Jahrhundert ist das Zeitalter der Gelegenheitsdichtung, in der sich fast jeder übte, der ein wenig Bildung aufgenommen hatte. Hier wird dem Einzelerlebnis, dem familiären Ereignis wie Bestattungen und Geburten, Raum gegeben. Diese kleinen Anlässe wurden auch als zum Grundverständnis des Menschen gehörlich interpretiert. Wir können so an das Einzelschicksal heranzoomen, das oft auch sehr berührend ist.
Was lernen wir für heutige Kriege?
Ich sehe Parallelen zu den Geschehnissen im Nahen Osten. Auch hier ist der verfremdete Blick des Westens sehr einfach. Man sieht den Glaubenskrieg, man sieht aber nicht die Akteure und die temporären Bündnisse, weil das Grundverständnis der Ethnien und deren Geschichte fehlt. Erst durch das Heranzoomen kommen wir dem Geschehen selbst und der Schwierigkeit, es zu beenden, auf die Spur. Der Westen braucht sich nichts einzubilden auf seine Diplomatie. Denn diese war oft genug von fehlender Sachkenntnis geprägt. Ich empfehle dazu Peter Scholl Latours Buch: Der Fluch der bösen Tat. Außerdem sollten wir die demographischen Entwicklungen im Auge haben, die für viele erst der Ausgang dafür sind, sich den frommen Bewegungen des Krieges anzuschließen.
für ad astra: Romy Müller
Zur Person
Sabine Seelbach ist Professorin für Sprach- und Literaturwissenschaftlen am Institut für Germanistik mit Schwerpunkt auf ältere deutsche Sprache und Literatur im Mittelalter bzw. im Frühhumanismus. Mitte Mai 2018 lud sie in Kooperation mit der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld zu einer internationalen Tagung „Der Dreißigjährige Krieg – Ereignis und Narration“, gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung.