Die Bilder und wir alle
Bilder wenden sich an ein Publikum und übernehmen dabei eine Vermittlungsfunktion. Für die Popularisierung und die populistische Ansprache werden meistens Figurationen des menschlichen Gesichts und Körpers eingesetzt. Anna Schober, Professorin für Visuelle Kultur, hat diese Bilder unter die Lupe genommen.
Als im Februar 2019 eine neue Episode der Serie „Commissario Montalbano“ auf Rai 1 im italienischen Fernsehen lief, schauten über 11 Millionen Italienerinnen und Italiener zu. Einer von ihnen war der damalige Innenminister Matteo Salvini, der sich vor dem Fernseher breit grinsend fotografierte und mit einem Tweet gegenüber der Öffentlichkeit seine Sympathie für Andrea Camilleris sizilianische Krimifigur kundtat. Die Folge thematisierte, wie auch andere davor, die Fragen der Immigration an Europas südlicher Grenze. Matteo Salvini löste mit seinem Post eine Vielzahl polarisierender Reaktionen in den Sozialen Medien aus. Montalbano, der eigenwillige Kommissar, wurde so Teil eines politischen Diskurses, in dem er als so genannter „Doppelgänger“ des Publikums fungierte. Anna Schober, die dieses Beispiel am Beginn ihres Vorworts zum Buch „Popularisation and Populism in the Visual Arts“ (2019, Routledge) bringt, erklärt die Funktion solcher Figuren: „Diese everybodies sprechen uns alle an. Sie sind häufig alltägliche Gestalten, die mit der Menge in Verbindung gebracht werden. Sie treten als Stellvertreter des Betrachters auf und fordern eine Resonanz heraus.“ Figuren wie diese hätten eine ambivalente Funktion, erklärt sie weiter: „Sie können Begehren und Interesse, aber auch Hass und Ressentiment vermitteln, jedenfalls sind es aber Emotionen, die zutage treten. Diese Funktion kommt nicht zuletzt dem Populismus zugute, weil die dort Anführenden im von ihnen bedienten Konflikt zwischen Volk und Elite Hass vermitteln wollen.“
Anna Schober wurde in ihrer Recherche nach everybodies in allen historischen Epochen und in vielen Kulturkreisen fündig. Ein bis heute nachwirkender everybody sei Jesus Christus, eine Figur also, die uns immer noch vielerorts anblickt und in Schach hält, oder der Narr im Mittelalter. Ihr besonderes Forschungsinteresse gilt dabei auch den historischen Umbrüchen, in denen neue Figuren die Bühne betreten. „In der Moderne treten dann everybodies in neuer Form in Erscheinung, als Menschen wie du und ich. Sie werden auch zu Ikonen von Protest- und Emanzipationsbewegungen und mit dem Körper des Volkes in Verbindung gebracht. Immer wieder sind es jedenfalls Einzelne, die dargestellt werden, aufrührerisch, mit erhobener Faust, aber mit der Menge verbunden. Dafür gibt es eine lange Tradition“, erläutert Anna Schober. Die Varianten des Sujets sind vielfältig: Von Körperspuren über einzelne Körperteile wie Hände bis hin zu Ganzkörperporträts reichen die Darstellungen.
Um möglichst alle anzusprechen, galt es in der Moderne erstrebenswert, die Figuren zu abstrahieren und den Aspekt des Universellen an den Charakteren in den Vordergrund zu stellen. Anna Schober möchte diesen universellen Anspruch auch nicht als überholt ad acta legen, weil „wir brauchen den Universalismus, wenn wir uns an alle wenden, es gibt allerdings unterschiedliche Formen, ihn zu leben. Man kann ihn gewaltsam auferlegen, oder ihn dazu nutzen, die Frage nach dem Weg, den die Gesellschaft nehmen soll, präsent zu halten.“ Ihre Beobachtungen zeigen, dass die Partikularität in der Moderne wieder stärker in den Vordergrund kommt. Vielen Figuren sähe man gar nicht mehr an, dass sie alle ansprechen. Aber sie haben, wie beispielsweise die Ikone der Klimabewegung Greta Thunberg, durchaus diesen Anspruch.
Heute gibt es sehr viele Figuren, die um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren. Vielerorts fällt uns nicht mehr auf, dass ein everybody im Spiel ist. Wenn Figuren aus der Masse hervorstechen, habe das mehr mit uns zu tun als mit diesen Bildern, so Anna Schober. „Wir bilden persönliche Ressonanzen und schwingen mit. Die Ressonanzkörper etablieren sich aus unserer Geschichte, unserer Tradition und unseren gegenwärtigen Herausforderungen. Mit manchen verstricken wir uns auf mimetische Weise: Wir übernehmen von diesen Figuren Haltungen, Gesten, Weltsichten und Überzeugungen.“ Interessanterweise seien viele everybodies Figuren gesellschaftlicher Andersheit – beispielsweise die „neue Frau“ in der Moderne oder „der Arbeiter“ als der neue Mensch. Über diese Personen könne etwas Neues inszeniert und Gegebenes zurückgewiesen werden. Sie bilden eine Projektionsfläche für die Sinnsuche und Hinterfragung des Eigenen, aber auch für Zurückweisung. „Daran kristallisieren sich Auseinandersetzungen,“ so Anna Schober, „die in einer Welt, in der niemand mehr seinen gesetzten Platz hat, sondern es an jedem selbst und am Zufall liegt, wo man landet, durchaus rivalisierend sein können.“
für ad astra: Romy Müller