Die andere Seite der Selbstständigkeit
Der Soziologe Dieter Bögenhold tritt für einen kritischen Diskurs zu Funktionen und Effekten der Selbstständigkeit in Volkswirtschaften ein. Denn: Nicht immer ist alles gut, was in den Arbeitsmarktstatistiken glänzt.
Wer ist ein Unternehmer?
Unternehmertum ist extrem heterogen. Es schließt in sozialer, ökonomischer und biographischer Hinsicht unterschiedliche Situationen und Werdegänge mit ein. Unternehmer haben gemeinsam, dass sie nicht lohn- oder gehaltsabhängig sind. Ebenso hat Unternehmertum eine große Schnittmenge mit der beruflichen Selbstständigkeit. Die Bandbreite ist immens und geht vom Dönerbuden-Besitzer bis hin zu Didi Mateschitz.
Ist man immer eindeutig Unternehmer?
Alle Statistiken zeigen eine Trennung zwischen abhängiger und selbstständiger Erwerbsarbeit. Was man dabei nicht bedenkt, ist die Mobilität zwischen den beiden Sphären. Überdies gibt es Situationen, in denen Menschen mit einem Bein selbstständig sind und mit dem anderen in abhängiger Erwerbsarbeit stehen. In einer Studie mit Andrea Klinglmair haben wir dieses Phänomen „Hybridität“ genannt. Dazu wollen wir weiter arbeiten.
Welche Rolle spielt dabei die Berufsgruppe?
2011 habe ich mich mit zwei finnischen Kolleginnen mit dem Arbeitsmarktverhalten von Freiberuflern auseinandergesetzt: Journalisten, Dolmetschern und Künstlern. Diese drei Gruppen zeigten unterschiedliche Rationalitäten. Journalisten waren vornehmlich dann selbstständig, wenn sie keinen Job hatten. Sobald sich eine Chance auf Anstellung ergab, nahmen sie diese an. Bei den Künstlern war es gegenteilig: Deren Habitus war von Unabhängigkeit geprägt. Selbst wenn sie mit ihrer Selbstständigkeit finanziell schlecht über die Runden kamen, wollten sie nicht irgendeinen Job annehmen. Die Linie zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Erwerbsarbeit ist nicht so starr, wie die Statistiken suggerieren. Sie ist brüchig und von Transitionen in die eine oder die andere Sphäre geprägt. Diese Phänomene wurden bisher noch wenig untersucht.
Neben hybriden Konstellationen gibt es auch „Part-time“-Selbstständige. Wie sehen Sie dieses Phänomen?
Auch Teilzeit-Selbstständige werden in den Statistiken nur unvollkommen berücksichtigt. Dabei gibt es bei den Selbstständigen einen erheblichen Anteil von Teilzeit-Erwerbstätigkeit und Niedrigeinkommen, besonders unter den Frauen. Viele Einkommen von Teilzeit-Selbstständigen gehen in der Individualbetrachtung in armutsnahe Bereiche. Wenn man jedoch die Haushaltsebene betrachtet, dann ist diese Selbstständigkeit häufig ein Haushaltszusatzeinkommen.
Was hat das alles mit den Herausforderungen unserer derzeitigen, sich wandelnden Arbeitsgesellschaft zu tun?
Der Begriff Unternehmertum ist gemeinhin positiv aufgeladen, auch politisch: Unternehmertum schaffe Innovation, Arbeitsplätze und Wachstum. Der Unternehmer gilt als Heros, der die Gesellschaft weiterbringt und positive wirtschaftliche Akzente setzt. Das kann man aber auch anders sehen: Viele Phänomene, die sich bei einer genaueren Betrachtung zeigen, kennen wir schon lange unter dem Begriff der „Amerikanisierung der Arbeitswelt“: Menschen haben nicht nur einen oder zwei Jobs, sondern bestreiten ihren Lebensunterhalt aus einem ganzen Puzzle von Aktivitäten.
Können Sie diese kritische Perspektive mit Zahlen belegen?
Die Schattenseiten des Unternehmertums werden in den Statistiken sichtbar: Mehr als 70 Prozent der Unternehmer in der EU28 sind Ein-Personen-Unternehmen. In Österreich und Deutschland sind die Zahlen mit unter 60 Prozent vergleichsweise niedrig. In Großbritannien aber sind schon fast 85 Prozent aller Unternehmen EPUs, bestehen also nur aus einer einzigen Person.
Verändert der gesellschaftliche Wandel und der Wandel der Arbeitswelt die Perspektiven auf den Begriff „Unternehmertum“?
Insgesamt bringt die Digitalisierung weitreichende Umbrüche in der Gesellschaft mit sich, die – ähnlich wie im Zuge der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert – zum Aussterben ganzer Berufssparten führen wird. Gleichzeitig entwickeln sich neue Tätigkeitsfelder. Die Zusammenhänge zwischen unserer digitalisierten Gesellschaft und der Ökonomie sind insgesamt komplexer geworden. Wenn man heute als junger Mensch ins Berufsleben eintritt, kann man relativ sicher sein, dass man nicht mit diesem Beruf in Pension geht. Vielmehr wird sich die Erwerbstätigkeit der Zukunft in biographische Phasen gliedern, darunter können auch selbstständige Episoden sein. Damit geht auch ein verändertes Verständnis von Beruf und Einkommen einher. Es ist davon auszugehen, dass es eine stabile, relativ zufriedene Mitte in der Kategorie der EPUs gibt: Diese Menschen machen genau das, was sie wollen, und streben kein Wachstum ihres Unternehmens an, auch wenn sie kein Vermögen mit ihrer Selbstständigkeit verdienen.
Schaffen mehr Selbstständige auch mehr Arbeitsplätze?
Nein, die statistischen Befunde zeigen, dass eher das Gegenteil der Fall sein könnte: Steigende Selbstständigkeitsquoten sind der Effekt von steigenden Arbeitslosenquoten. Überall, wo die Arbeitslosigkeit ansteigt, steigt auch die Selbstständigkeit an. Das, was häufig als Medizin gegen die Krankheit Arbeitslosigkeit propagiert wird, ist eigentlich gar keine Medizin, sondern das Symptom. Man kann es aber nicht in einfache Formeln von „gut“ oder „schlecht“ fassen, das wäre zu simpel.
Wie wichtig ist also eine differenzierte Sichtweise auf das Thema Unternehmertum?
Hier fängt der Sinn von Wissenschaft an, denn sonst könnten wir auf der Ebene des politischen Alltagsdiskurses stehen bleiben, der im Wesentlichen predigt: Je mehr Unternehmer eine Volkswirtschaft hat, umso besser. Selbstständige schaffen sich einen Arbeitsplatz und zahlen Steuern. Wenn sie erfolgreich sind, zeigen sich Multiplikatoreneffekte und die Arbeitslosenquote sinkt. Je stärker die Selbstständigkeit gefördert wird, umso mehr sinkt die Arbeitslosigkeit und steigt das volkswirtschaftliche Wachstum. Das Problem ist, das diese Ratio empirisch gesehen nicht immer stimmt.
International gelten die startup- freundlichen USA als Vorbild.
Die OECD-Daten aus dem Jahr 2015 zeigen uns: Die USA haben die niedrigste Selbstständigenquote aller Länder, noch niedriger als Russland. Hohe Selbstständigenquoten sieht man dagegen häufig in Ländern mit geringem volkswirtschaftlichem Wachstum und hohen strukturellen Problemen am Arbeitsmarkt, zum Beispiel in Griechenland und der Türkei. Es ist also anzunehmen, dass eine vernünftige Wirtschaftsstruktur, die auch genügend Arbeitsplätze bereitstellt, die Grundlage von Wachstum ist und nicht umgekehrt. Fragen nach solchen kausalen Zusammenhängen werden freilich selten gestellt.
für ad astra: Annegret Landes
Zur Person
Dieter Bögenhold ist seit 2011 Universitätsprofessor am Institut für Soziologie. Er arbeitet an der Schnittstelle zwischen betriebswirtschaftlicher und soziologischer Forschung. Seine Arbeitsgebiete sind die Gründungs-/Entrepreneurshipforschung, die Konsumforschung bzw. die Soziologie des Konsums sowie die Innovationsforschung und die Geschichte der Soziologie und des volkswirtschaftlichen Denkens.