Altwerden

Der verstellte Blick auf das Altwerden

Wir werden immer älter, die Demenzerkrankungen steigen, und die Vorstellungen von Altsein und Pflege werden zunehmend negativer. Die Gerontologin Irene Straßer verweist auf differenzierte Sichtformen und erarbeitet mit der Diakonie de la Tour ein zukunftsweisendes Pflegemodell.

Frau Straßer, Sie legen als Entwicklungspsychologin den Fokus auf die Altersforschung. Welches Bild vom Altsein und Pflege prägt die Gesellschaft?

Alte Menschen und das Altsein sind gesellschaftliche Bereiche, die mit starken stereotypen Vorstellungen verbunden sind. Es sind Vorstellungen von Krankheit, verminderter Leistungsfähigkeit und die Angewiesenheit auf Pflege. Diese zumeist negativ empfundenen Altersbilder entsprechen jedoch nicht der Lebensrealität der älteren Generation. Bei jedem Menschen lässt sich ein eigener roter Faden finden, der sich durch alle Lebensalter zieht und nie abreißt. Unter den Bedingungen, unter denen Pflege in unserer Gesellschaft realisiert wird, ist es im Pflegealltag oft schwierig, ein tieferes Interesse für die alten Menschen, ihre Lebenswege und Bedürfnisse zeigen zu können. Hinderlich daran kann auch das Altersbild sein, das professionelle und motivierte Pflegekräfte mitbringen.

Wodurch und wie hat sich die Sicht auf Alter verändert?

Die Altersforschung war lange Zeit sehr medizinisch dominiert und an den Defiziten wie Abbau von Ressourcen und kognitiver Einschränkung ausgerichtet. Die Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen steigt zwar mit dem Alter, doch die Einschränkungen kommen nicht plötzlich, sondern schrittweise und oft schon ab dem mittleren Lebensalter. Die Frage ist vielmehr, wie damit umgegangen wird. Aus psychologischer Sicht ist das Altwerden ein Entwicklungsprozess. Der Mensch besitzt viele Ressourcen, die er nicht alle gleichzeitig nutzen kann. Aufgrund der hohen Plastizität des Gehirns kann er aber bis ins hohe Alter lernen, auch mit schwierigen Situationen gut zurechtzukommen. Er lernt zu kompensieren und Dinge aufzugeben, die nicht mehr gut funktionieren. Das Aufgeben ist jedoch eine hochemotionale Angelegenheit.

Der Pflegebereich steht häufig in der Kritik. Wo liegen die Probleme?

Die heutige Gesellschaft ist bestimmt vom Wunsch nach Leistungsfähigkeit und Selbstverantwortung bis ins hohe Alter. Das ist zwar legitim, aber es behindert die Vermittlung eines differenzierten Bildes von Pflege. In der Organisation von Care-Arbeit sollten auf allen Ebenen Möglichkeiten geschaffen werden, damit Vorstellungen vom Leben im Alter realisiert werden können. Und das sollte nicht auf Kosten anderer – wie etwa Töchter, Schwiegertöchter oder 24-Stunden-Pflegekräfte – gehen. Es gibt viele Pflegeeinrichtungen, deren Personal hochmotiviert ist. Die Frage ist, unter welchen Bedingungen sie die Motivation halten können. Pflegende Menschen müssen oft gesellschaftliche Fehlentwicklungen ausgleichen. Für Gestaltungsmöglichkeiten bleibt wenig Spielraum, da im Pflegebereich der aktuelle Fokus auf Risikomanagement statt auf individuellen Freiräumen liegt.

Die Diakonie will nun neue Wege gehen und hat sich Ihre Expertise dazu geholt. Was ist geplant?

Durch eine weitreichende Umstrukturierung des Hauses St. Peter in Klagenfurt – und später auch an anderen Pflegeeinrichtungen – soll mehr Lebensqualität für Menschen mit Demenzerkrankung möglich werden. Die Diakonie ist von sich aus an unsere Abteilung für Entwicklungspsychologie herangetreten, um unter wissenschaftlicher Begleitung ein gesamthaftes Modell umzusetzen. Was den Bereich Altersbilder betrifft, wurden im ersten Durchgang die eigenen Vorstellungen von Altern und Demenz reflektiert und die Motivationsthemen eruiert. Eine Schlussfolgerung daraus war, dass ein wichtiger Faktor für die Zufriedenheit aller Beteiligten das Schaffen von Teilhabemöglichkeiten sowohl für BewohnerInnen als auch für MitarbeiterInnen ist.

Wie sehen partizipative Vorstellungen konkret aus?

Das geht bis zur Selbstorganisation und Mitentscheidung in Prozessen. Entscheidend ist, dass etwas selbst getan werden kann, selbst wenn es mit der Unterstützung von einer anderen Person geschieht. Das macht es eben aus, dass das Leben selbst gestaltet werden kann. Es sollte eine Kultur implementiert werden, die erlaubt, Vorschläge zu machen und in der Umsetzung gefördert zu werden. Generell werden ein größeres Angebot und verschiedene Arten der Teilhabe gewünscht, sowohl für MitarbeiterInnen als auch für BewohnerInnen. Die Wünsche und Vorstellungen der Befragten sind vielfältig und betreffen alle Bereiche. Es beginnt schon mit der partizipativen Gestaltung von Wohn- bzw. Arbeitsumfeld. Konkrete Ideen betreffen die Beschäftigung mit hauswirtschaftlichen Tätigkeiten ebenso wie Musikalisches oder Sportliches.

Muss es immer ein Erlebnis in der Gruppe sein

Oft gibt es den Wunsch, etwas für sich alleine und aus einer intrinsischen Motivation tun zu können. Es muss nicht immer alles in der Gruppe oder unter fremder Anleitung als Kompetenztraining passieren, manchmal geht es auch nur ums Genießen. Auch wir Jüngere wollen nicht immer alles mitgestalten, wollen einfach nur in ein Konzert gehen und uns berieseln lassen. Die Freude tritt nicht automatisch mit dem reinen Beschäftigtsein ein, sondern erst, wenn es mit meinen Vorstellungen gekoppelt ist. Ein Beispiel: Wenn ich spontan zum Frühstück ein Omelett möchte und zum Küchenherd gehen und mir eines machen kann. Das klingt einfach, aber in einem institutionellen Umfeld hat die Risikovermeidung Vorrang.

Welche Beteiligungsstufen könnte es geben?

Wir haben im Projekt fünf Stufen der Beteiligung identifiziert, die umgesetzt werden sollen. Stufe 1: ein regelmäßiges Angebot, das genutzt werden kann oder auch nicht. Stufe 2: ein breites Angebot, aus dem gewählt werden kann. Stufe 3: Möglichkeiten, spontane Ideen und Wünsche umzusetzen, etwa sich ein Omelett zum Frühstück zu machen. Stufe 4: Mitgestalten und Mitbestimmen, etwa bei der Wohnraumgestaltung. Stufe 5: selbstorganisiert von der Idee bis zum fertigen Resultat – wie für eine Wohnkollegin ein Geburtstagsfest mit selbstgebackener Torte ausrichten.

Welche Rolle spielt die Einstellung zu einem partizipativen Miteinander?

Es geht allen Beteiligten um das Erleben von kleinen Freuden im Trott des Alltags. Die Menschen wollen nicht ständig bevormundet werden. Man muss eine partizipatorische Haltung ernst nehmen und sie gut begleiten. Dies betrifft auch die MitarbeiterInnen, die tun dürfen, wofür sie brennen. Beide können und wollen sich dann eher aufeinander einlassen und das Engagement ausleben. Für eine dahingehende Änderung braucht es aber beides, eine Änderung der Haltung und eine organisatorische Umstrukturierung.

für ad astra: Barbara Maier

Zur Person

Irene Straßer ist Assistenzprofessorin am Institut für Psychologie/Abteilung Entwicklungspsychologie und wissenschaftliche Projektleiterin von „aDeM – Professionelle Betreuung und Pflege für an Demenz erkrankte Menschen” der Diakonie de La Tour. Von der Universität sind an diesem Projekt weiters Till Manderbach, Carmen Payer und Ines Hopfgartner beteiligt. Straßer ist im aktuellen Studienjahr 2018/19 Visiting Assistant Professor an der American University of Paris.

Straßer Irene | Foto: privat