Der steinige Weg zur Weisheit
Weise wird, wer aus einschneidenden Lebenserfahrungen gestärkt hervorgeht, so die Weisheitsforscherin Judith Glück. In einem Buch hat sie fünf Ressourcen vorgestellt, über die weise Menschen verfügen und die ihnen dabei helfen, den oft steinigen Weg zur Weisheit zu gehen.
Wie weise sind Sie, Frau Glück?
Zum Glück bin ich noch nicht sehr weise. Um Weisheit zu entwickeln, muss man nach den Theorien, mit denen wir arbeiten, einschneidende Lebenserfahrungen machen, die oft auch schmerzlich sind. Vieles davon ist mir noch erspart geblieben. Ich habe aber bestimmt durch die Beschäftigung mit Weisheit und durch das Lesen von Interviews mit potenziell weisen Menschen viel gelernt.
Welche Erfahrungen sind damit gemeint?
Wir verstehen darunter Ereignisse, die das Leben der Betroffenen massiv verändern, wie beispielsweise Erkrankungen oder Trennungen. Die Erfahrungen müssen aber nicht unbedingt negativ sein: So verändert auch die Geburt des ersten Kindes sehr viel im Leben von Menschen. Vorstellungen, die man vorher vom Leben hatte, werden grundlegend über den Haufen geworfen.
Werden die meisten Menschen durch negative Erfahrungen nicht melancholischer, ängstlicher oder verbitterter?
Nein, die Forschung zeigt uns eher das Gegenteil. Die meisten reagieren natürlich auf negative, einschneidende Ereignisse vorerst mit Wut und Verzweiflung, aber das sind Prozesse, die als normale Verarbeitung zu verorten sind. Studien zeigen, dass es den meisten Menschen gelingt, wieder zu einem normalen Wohlbefinden zurück zu finden. Weisheit zu erreichen ist dann aber nochmal etwas anderes.
Was machen weise Menschen anders?
Sie setzen sich intensiver mit den schwierigeren oder schmerzhafteren Teilen so einer Erfahrung auseinander. Nehmen wir als Beispiel eine Trennung, die man so nicht wollte und die trotzdem passiert ist: Man kann relativ schnell wieder das eigene Wohlbefinden und den Selbstwert herstellen, indem man sich sagt, dass die andere Person ein schlechter Mensch war und an der Trennung schuldig ist. Man kann sich aber auch fragen: Was ist da passiert? Wie fühle ich mich dabei und was fühlt die andere Person? Kann ich das Verhalten des anderen nachvollziehen? Welche Entwicklung steht dahinter? Was kann ich daraus lernen? Weise Menschen können sich in hohem Maße die Offenheit erhalten, die es braucht, um sich immer weiter zu entwickeln. Dazu muss man auch viele Glaubenssätze anzweifeln und hinterfragen, um neue Schritte zu machen. Das ist nicht immer leicht.
Wie funktioniert Ihre Forschungsarbeit bzw. wie finden Sie weise Menschen?
Weise Menschen können sich bei uns nicht selbst melden, sondern sie werden von anderen nominiert. Wir gehen davon aus, dass, wer sich selber als weise bezeichnet, zwar nicht unweise sein muss. Aber die Wahrscheinlichkeit ist recht groß, dass die Selbstreflexion und Selbstkritik nicht ganz so hoch ausgeprägt ist. Und ein wirklich weiser Mensch wird auch von anderen als weise gesehen und dann nominiert.
Wer sind diese Menschen, die nominiert werden?
Die Bandbreite ist sehr groß. Wir haben Nominierungen vom Bergbauern bis zu Menschen mit einem höheren Bildungsabschluss. Männer und Frauen sind ungefähr gleich verteilt. Meist sind es Ältere, aber es finden sich auch Jüngere unter den Nominierten. Die Nominierenden führen meist aus, dass es Menschen sind, die viel mitgemacht haben, aber trotzdem eine positive Einstellung zum Leben haben. Oder solche, die anderen Rat geben, ohne zu bevormunden. Auch eine große Gelassenheit und Freude am Leben scheint sie auszuzeichnen.
Lässt sich Weisheit gut messen?
Wir führen Interviews und werten diese dann qualitativ aus. Wir ringen dabei aber mit vielen Problemen, da Körpersprache und Ausdruck in den Transkripten oft nicht sichtbar werden und unsere Kriterien teilweise ziemlich komplex sind. Natürlich spielt auch eine Rolle, dass die Interviewten wissen, dass sie zu Weisheit befragt werden.
Lässt sich dieser Effekt herausfiltern?
Wir haben einmal eine Studie darüber durchgeführt, was passiert, wenn wir Menschen direkt dazu auffordern, weise zu antworten. Es hat sich gezeigt: Weise Menschen antworten dann noch weiser. Die, die relativ wenig weise sind, sind dann aber noch weniger weise. Man kann also Weisheit nur bis zu einem gewissen Grad vortäuschen. So gibt es beispielsweise Menschen, die eine weise Rolle spielen. Man merkt dann aber meist sehr bald, dass es ihnen um Selbstbestätigung geht.
Ist Weisheit eine stabile Eigenschaft oder kann man auch nur manchmal weise sein?
Darauf deuten viele unserer Studien hin. Fragt man Menschen beispielsweise nach einer Situation, in der sie weise waren, kann fast jeder und jede über ein Ereignis berichten, in dem das der Fall war. In einer anderen Studie haben wir mit den Personen zwei Interviews geführt: Einmal haben wir sie über ein schwieriges Ereignis ihrer Wahl befragt und das andere Mal über einen spezifischeren Konflikt. Die Korrelation zwischen den beiden Messungen war überraschend schwächlich. Es kann also sein, dass jemand sehr weise über einen Konflikt spricht, über ein schwieriges Ereignis aber nicht. Weisheit muss also nicht unbedingt eine stabile Personeneigenschaft sein.
Ist der oder die Weise eher EremitIn?
Unsere Untersuchungen zeigen, dass der Umgang mit anderen Menschen für viele Weise sehr wichtig ist. Viele haben das Gefühl, von kritischem Input, der Diskussion und anderen Perspektiven zu profitieren. Eine andere Studie hat gezeigt, dass weise Menschen mehr Dankbarkeit äußern als andere. Viele sind zum Beispiel, auch nach jahrzehntelangen Beziehungen, für ihren Partner dankbar.
Wie kann sich ein junger Mensch, vor dem noch viele einschneidende Lebenserfahrungen liegen, für sein Leben rüsten?
Die Haltung, von der wir annehmen, dass sie die Grundlage für Weisheit ist, kann man schon früh entwickeln. Man kann Offenheit trainieren, sich bewusst auf Neues einlassen. Man kann sich und seine Gefühle kennenlernen und ernst nehmen. Man kann die Perspektiven wechseln und sich in andere hineinfühlen. All das kann man in jedem Alter machen.
Denken Sie, dass Weisheit in unserer gegenwärtigen Gesellschaft wichtig ist?
Wenn wir davon ausgehen, dass sich Weisheit auf die Grundfragen des menschlichen Lebens bezieht, sind diese immer gleich. Es müsste also für jede Epoche gleich bedeutend sein, sich beispielsweise mit Sterblichkeit gut auseinander zu setzen. Andererseits glaube ich schon, dass verschiedene Zeiten auch unterschiedliche Anforderungen an den Menschen stellen. Heute hat das Individuum extrem große Wahlmöglichkeiten zur Verfügung, gepaart mit dem Anspruch, dass man sein Leben stark selbst gestalten möchte und muss. Das Vertrauen in die Älteren und deren Kompetenz hat an Bedeutung verloren, gleichzeitig haben wir mehr Wissen, Kommunikation und Kontaktmöglichkeiten als je zuvor. Ich weiß also nicht, ob dies eine gute oder schlechte Zeit für die Entwicklung von Weisheit ist.
Reflexivität ist heute aber mehr denn je en vogue, oder?
Ja, absolut. Aber auch hier nehme ich eine Gratwanderung wahr: Einerseits gibt es dieses starke Über-sich-Nachdenken, bei dem man häufig zu viel auf sich selber konzentriert ist. Andererseits gibt es das Konzept der Weisheit als Selbsttranszendenz, bei dem man davon ausgeht, dass man erst ein hohes Selbstwissen haben muss, um dann mit sich selbst im Reinen zu sein. Davon ausgehend kann man dann aber über sich selber hinwegsehen und andere Menschen so annehmen, wie sie sind. Diesen Weg können aber anscheinend nur sehr wenige gehen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sich Ihre Theorien zu Weisheit auf Mitteleuropa im 21. Jahrhundert beziehen. Wie sieht es andernorts aus?
Es gibt Weisheitsforschung zu anderen Regionen, wenn auch nur wenig. Letzten Sommer war eine Gastwissenschaftlerin aus dem Iran bei uns am Institut, die in ihrer Heimat Weisheitsvorstellungen von Kindern untersucht. Die iranischen Kinder beschreiben weise Menschen sehr viel stärker als religiös und als eingefügt in Wert- und Regelsysteme, während bei uns schon Kinder weise Figuren als stärker individuell sehen. Bei uns wird viel häufiger eine weise Figur gesehen, die im Mittelpunkt steht und Rat gibt, während im asiatischen Raum eher eine bescheidenere Figur als weise definiert wird, die sich einfügt und sich mehr durch emotionale Aspekte, wie eine gewisse Gelassenheit, auszeichnet. Es gibt aber auch große Gemeinsamkeiten.
für ad astra: Romy Müller | Das Fotoshooting zur ad-astra-Titelgeschichte fand in der Adlerarena Landskron mit dem sibirischen Uhu Rasputin statt.
Seit wann wird zu Weisheit geforscht?
Die psychologische Weisheitsforschung ist eine junge Wissenschaft und steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklungspsychologie. Erste Ansätze, sich nicht nur mit der Kindheit, sondern auch mit der weiteren Entwicklung des Menschen zu beschäftigen, gehen auf die 1920er Jahre zurück.
1950 präsentierte der Psychoanalytiker Erik H. Erikson seine Thesen, wonach jede Lebensphase durch einen bestimmten Konflikt gekennzeichnet sei, so auch das höhere Alter, wo es vorwiegend darum gehe, das gelebte Leben in seiner Gesamtheit sinnerfüllt zu sehen.
Als man sich in den 1980er Jahren auch in anderen Wissenschaftsfeldern stärker für das Alter interessierte, bildete sich die psychologische Weisheitsforschung heraus. 1980 wurde am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin ein Forschungszentrum für Entwicklungspsychologie der Lebensspanne gegründet, das von Paul B. Baltes geleitet und entscheidend geprägt wurde. Es folgten erste empirische Studien zu Weisheit, wobei man davon ausging, dass Weisheit Expertenwissen über die fundamentalen Themen des menschlichen Lebens sei. Das Berliner Weisheitsparadigma war lange Zeit die einzige Methode zur Erforschung von Weisheit.
Ab 2000 hat sich das Feld deutlich erweitert, unter anderem geprägt von der Professorin für Soziologie Monika Ardelt, die betonte, dass Wissen zwar zur Weisheit gehöre, dass aber die Grundlage der Weisheit eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur sei. Einen weiteren Aspekt brachte Michael R. Levenson in die Diskussion ein, der Selbsttranszendenz als das zentrale Merkmal von Weisheit betrachtet. Weise Menschen hätten sich demnach intensiv und kritisch mit sich selbst auseinandergesetzt und seien in der Lage, sich selbst mit ihren positiven und negativen Seiten zu akzeptieren. Robert J. Sternberg bezieht sich in seinen Arbeiten eher darauf, wie weise Menschen denken: Sie können unterschiedliche Interessen – eigene, die anderer Personen und die der Gesellschaft – zum Wohle aller Beteiligten miteinander ausbalancieren.
Die meisten Theorien von Weisheit sind keineswegs unvereinbar und beziehen sich stark aufeinander. Judith Glücks Forschungsgruppe an der Alpen-Adria- Universität bemüht sich darum, wichtige Teile der unterschiedlichen Theorien zu kombinieren, indem sie sowohl Wissen als auch Persönlichkeitseigenschaften einbezieht.
Zur Person
Judith Glück, geboren 1969, hat an der Universität Wien Psychologie studiert und dort ihr Doktorat abgeschlossen. Bis 2002 war sie Postdoctoral Research Fellow für Lifespan Psychology am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Nach der Habilitation im Jahr 2002 kehrte sie an die Universität Wien als außerordentliche Professorin für Entwicklungspsychologie zurück. Seit 2007 ist sie Professorin für Entwicklungspsychologie am Institut für Psychologie der AAU. Sie leitet(e) mehrere Forschungsprojekte zu Weisheit, unter anderem gefördert vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF. In Zukunft möchte sie speziell zu Weisheit in bestimmten Berufsfeldern, mit einem Fokus auf Lehrerinnen und Lehrer, forschen.
- Offenheit für Neues: Neugier auf das Leben und die Bereitschaft, andere Standpunkte gelten zu lassen
- Emotionsregulation: ein kluger Umgang mit den eigenen Gefühlen
- Einfühlungsvermögen: die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen
- Reflexivität: komplexe Zusammenhänge verstehen wollen, sich selbst hinterfragen
- Akzeptanz von Unkontrollierbarkeit: die Einsicht, dass wir nur eine begrenzte Kontrolle über die Dinge haben, die in unserem Leben passieren