Der mittelalterlichen Sprache auf der Spur
Die Arbeit an handschriftlichen Texten aus dem Mittelalter ist mühsam, aber lohnend. Der Romanist Raymund Wilhelm hat sich auf die Edition von altlombardischen Texten spezialisiert.
Raymund Wilhelm sagt, er sei immer schon vom romanischen Mittelalter fasziniert gewesen. Diese Begeisterung sei heute allgegenwärtig: „Es gibt in unserer Gesellschaft ein enormes Interesse am Mittelalter. Es gibt Mittelaltermärkte, historische Romane, entsprechende Filme als Blockbuster und vieles mehr.“ Editionen zu erarbeiten, sei für ihn die Grundlagenforschung, um dem Leben und der Sprache der Menschen von damals auf die Spur zu kommen. Diese Kunst sieht er heute, nicht zuletzt durch die Tendenzen in der Romanistik im deutschsprachigen Raum, gefährdet, denn: „Wenn wir nicht mehr die Handschriften edieren können, dann können wir nur noch wiederholen, was vor hundert Jahren gesagt worden ist.“ „Die Grundlage unserer Sprachgeschichte sind Texte, die bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts als Handschriften existieren. Diese zu lesen, ist schwer.“ Für eine Edition bereitet man einen handschriftlichen Text so auf, dass er heute lesbar wird. Dabei geht es um mehr als um das bloße Abschreiben.
„Vor mir liegt beispielsweise ein Text eines mittelalterlichen Kopisten, der an vielen Stellen die Abstände zwischen den Wörtern deutlicher, mal weniger deutlich gesetzt hat“, erzählt Raymund Wilhelm. Wenn Wilhelm nun den Text ediert, muss er sich entscheiden: Drücke ich auf die Leertaste oder nicht? Dadurch greift er in den Text ein, über den wir häufig nicht mehr wissen als das, was uns die wenigen Zeilen zu verraten vermögen. Es wird eine Sprache rekonstruiert, mit all ihren grammatischen Funktionen und ihrem Vokabular. Eine Leerstelle mehr oder weniger kann Konsequenzen für die Bedeutung eines Texts haben. Raymund Wilhelm hat sich dabei auf altlombardische Texte aus Mailand und Umgebung, aus der Zeit zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert, spezialisiert. Diese Sprache ist für die meisten Italiener heute unverständlich: Das Altmailändische ist sehr weit vom Standarditalienischen entfernt, das auf dem Toskanischen basiert.
Raymund Wilhelm arbeitet im deutschsprachigen Raum in einer Nische. Um es jungen Forschenden in diesem Feld leichter zu machen, die eigene Arbeit im Austausch mit anderen weiterzuentwickeln, hat er mit KollegInnen eine Sommerschule initiiert, die seit sechs Jahren als erfolgreiches Format existiert. „Menschen, die etwas Hochspezialisiertes machen, brauchen Gelegenheiten, um einander kennenzulernen“, erklärt er uns. Und bezieht sich nochmals auf die Bedeutung von Editionen – auch in der Gegenwart: „Jede Generation hat das Bedürfnis, die Handschrift nochmals neu zur Hand zu nehmen und sie wieder anders zu deuten. Mit einer Edition drückt man eine Hypothese über einen Sprachstand aus. Und diese Hypothesen wandeln sich mit der Zeit.“
Zur Person
Raymund Wilhelm ist seit 2011 Universitätsprofessor für Romanistische Sprachwissenschaft an der Universität Klagenfurt. Er studierte an den Universitäten Mainz, Tours und Pavia, habilitierte 2000 und war danach an den Universitäten Heidelberg, Basel, Freiburg im Breisgau, Graz und Bochum tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sprachgeschichte der Lombardei, Methoden der Sprachgeschichtsschreibung, Theorie und Praxis der Textedition, Religiöse Texte im romanischen Mittelalter, Transphrastische Strukturen im Französischen und Italienischen der Gegenwart.