„Das Klimathema muss wieder auf die oberste Stufe der Prioritätenliste!“

Eine Pandemie hält die Welt in Schach und (über)fordert die Kräfte von Gemeinschaft, Wirtschaft und Politik. Auch die der Wissenschaft? Wie bekommt man gleichzeitig das globale Problem des Klimawandels in den Griff? ad astra hat mit der Kulturwissenschaftlerin Alexandra Schwell über die Entwicklung von Gesellschaften und ihren Paradoxien, die Aufgabe der Politik und dem Witz in Krisenzeiten gesprochen. 

Wird es ein baldiges Ende der Pandemie geben?

Alexandra Schwell:  Gute Frage, ich bin keine Virologin. Wir hören von Mutationen und Überraschungen, die auf uns warten. Aus meiner Sicht kann ich das nicht beantworten, dafür gibt es Expert*innen. Ich will mir aber vorstellen, dass wir durch Impfungen, die für alle verfügbar sein sollen, wieder in die Nähe eines Normalzustands kommen werden.

Haben Sie Vertrauen in die Expert* innen?

Als Wissenschaftlerin habe ich ein grundsätzliches Vertrauen in die Arbeit der Kolleg* innen und in ihre Methoden. Es gibt auch genug Qualitätssicherungsverfahren, sodass ich den Daten trauen kann. Zugleich weiß ich, dass wissenschaftliche Daten, egal aus welchem Fach, nie endgültig sein können. Entscheidend ist in jedem Fall jedoch, wie die Politik mit der Expertise umgeht.

Man hat den Eindruck, dass die unterschiedlichen Meinungen zur Pandemie die Ressentiments gegenüber der Wissenschaft befördern. Wieso?

Das Problem ist, dass viele Menschen von den Wissenschaftler*innen Sofortlösungen erwarten und dass alle einer Meinung sind, sonst wird das als Schwäche ausgelegt. Die Politik tut sich keinen Gefallen, wenn sie in diesen Chor einstimmt. Noch besser wäre es, wenn auch noch andere Disziplinen miteinbezogen würden, denn es handelt sich bei der Pandemie um eine komplexe Sache und sie betrifft alle Lebensbereiche. Dazu kommt, dass Wissenschaftler* innen oft mit einem antielitären Blick angeschaut werden, weil sie sich – anscheinend – mit etwas beschäftigen, das nichts mit der Gesellschaft zu tun hat. Dabei ist das Gegenteil der Fall.

Die Wissenschaftsdisziplinen werden unterschiedlich bewertet. Deckt nicht jede einzelne Disziplin nur ein schmales Spektrum ab?

Jede Wissenschaft hat ihren Tunnelblick, ihre déformation professionnelle. Man hat natürlich sein Fach, über das man Aussagen treffen kann. Schlagkräftig wird die Sache, wenn ich verschiedene Perspektiven zusammenbringen kann. Viele Disziplinen haben bzw. hätten sehr wichtige Dinge zu sagen. Manche stehen unter Druck, weil sie nicht als nützlich angesehen werden, denn sie beenden nicht die Pandemie. Die Menschheit wäre allerdings arm dran, wenn sie sich nur auf die Technik- und Naturwissenschaften verlassen würde und die Geistes-, Kultur und Sozialwissenschaften beiseiteließe.

In vielen Ländern wird in der Pandemiebekämpfung der Wirtschaft der größte Stellenwert eingeräumt. Ist das die richtige Priorisierung?

Das ist eine politische Priorisierung, die von Interessen dominiert ist. In manchen Ländern, etwa in Dänemark, stehen die Schulen ganz weit oben, die Wirtschaft weiter hinten. Zugleich spielen bestimmte Lobbygruppen und Parteigruppen ihre Interessen nach vorne. Insofern ist es immer eine Abwägungsfrage, eine Frage der Priorisierung, und nichts Natürliches.

Die restriktiven Maßnahmen hatten auch Positives, sie führten etwa zu einer Änderung bisheriger Lebensgewohnheiten. Das wären ja gute Ausgangspunkte für ein klimafreundlicheres Verhalten? Könnte das eine neue Dynamik in das Klimathema bringen?

Es ist klar, dass das Klimathema wieder auf die oberste Stufe der Prioritätenliste kommen muss. Klimawandelpolitik und -maßnahmen haben mehrere Seiten. Der Mensch hat im Lockdown eingesehen, dass er weniger fliegen muss und regionaler einkaufen kann. Das andere ist, dass der Globale Norden, also die privilegierten Staaten, das Problem anders angehen muss als politisch und wirtschaftlich benachteiligte Länder. Dort gibt es wenig Chancen, das Thema von sich aus zu lösen. Diese Problemlagen werden unterschätzt. Aber bei uns nur auf die Verantwortung des Einzelnen zu setzen, dass jeder seine Lebensweise ändert, das funktioniert auch nicht. Es bleibt eine große politische Aufgabe, groß, gesamtgesellschaftlich und global umzudenken. Ich habe den Eindruck, die Politik schummelt sich hinaus.

Lässt sich da ein konkreter Fall festmachen?

Zu den großen CO2-Produzenten zählen etwa die Autoindustrie und der Autoverkehr. Hier in Klagenfurt, wo man hervorragend Fahrrad fahren könnte, tun das die wenigsten, außer sie machen Sport. Es funktioniert aber nicht, den Ball nur in eine Richtung zu spielen, also zum Konsumenten. Es gibt mittlerweile viele Länder, die Verbrennungsmotoren ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zulassen werden, andere, wie Österreich und Deutschland, ziehen hier nicht mit. Das sind politische Entscheidungen, die müssen top-down kommen. Die Wirtschaft wird nicht von sich allein auf eine Umstellung von klimaneutralen Produkten setzen, wenn sie nicht einen wirtschaftlichen Vorteil erschließen kann. Das ist eben der Kapitalismus.

Der Kapitalismus wird sich nicht aus der Welt drängen lassen, wie kann es dennoch gelingen, die Wirtschaft, die Politik und die Gesellschaft wieder für das Klimathema zu sensibilisieren?

Es ist wichtig, dass die Klimawandelbewegung wieder starken Schwung aufnimmt. Zum einen, um die Menschen davon zu überzeugen, dass der Klimawandel real ist und massive Auswirkungen hat, dass, was am Ende der Welt passiert, auch bei uns Auswirkungen hat und uns angeht. Aber vor allem, um Druck auf die Politik auszuüben. Denn das ist der entscheidende Hebel, wo dann weitreichende Änderungen durch- und umgesetzt werden können. Deshalb ist es ausschlaggebend, dass viele gesellschaftliche Kräfte zusammenkommen. Wenn allein die Wissenschaft sagt, das ist ein Problem, aber keiner zuhört, dann wird sich nicht viel ändern. Aber wenn dann eine Jugendbewegung entsteht und nach Veränderung ruft, und wenn sich viele Personen überzeugen lassen und sich angesprochen fühlen, dann wird der Druck so groß, dass man es sich aus politischer Sicht gar nicht mehr leisten kann, sich der Debatte zu verschließen und Maßnahmen gesetzt werden. Aber das sind keine Naturereignisse, genauso wie der Klimawandel kein Naturereignis ist, sondern menschengemacht. Deshalb muss der Mensch auch schauen, dass er die Sache wieder einfangen kann.

Und was ist mit den SUV-Fahrer* innen?

Es ist in der Tat ein interessantes Phänomen, dass Leute für den Kampf gegen Klimawandel und für Nachhaltigkeit eintreten und gleichzeitig übergroße, ressourcenverschwendende Autos kaufen. Diese Doppelmoral finden wir allerdings in vielen Lebensbereichen, und vermutlich könnten nur wenige von uns sie völlig von sich weisen.

Wie kommen wir trotzdem aus diesen Schlamasseln wieder heraus? Oder sollen wir einfach resilienter werden?

Krisen sind gesamtgesellschaftliche Anliegen. Der Einzelne sollte auf den anderen schauen, er ist aber nicht allein für sich und alles um sich herum verantwortlich. Die Frage ist, wie kann ich Menschen in Krisenzeiten unterstützen und vorausschauend Kapazitäten schaffen. Eine proaktive Politik muss dafür sorgen, dass niemand zurückgelassen wird. Es ist nicht der richtige Weg, das Problem zu individualisieren. Problematisch wird es, wenn es heißt, du musst resilient werden. Menschen passen sich nicht nur äußeren Umständen an, sondern sie versuchen die Verhältnisse, in denen sie leben, aktiv zu ändern. So entsteht gesellschaftlicher Wandel. Resilienz-Ratgeber suggerieren, dass es allein bei mir liegt, ob ich mit der Krise klarkomme. So funktionieren wir und auch die Gesellschaft nicht, sonst würden wir ja alle noch auf den Bäumen sitzen.

Zur Resilienz gehört auch Humor. Leidet eigentlich die Witzekultur auch unter der Pandemie?

Nein, die Witzekultur floriert, aber sie verschiebt sich ins Digitale. In Corona-Zeiten geht der direkt erzählte Witz natürlich seltener, weil man sich dafür ja persönlich treffen muss, dafür gibt es umso mehr Cartoons und Memes, also lustige Fotos und Videos aus dem Internet. Das ist bester Galgenhumor. Eine humoristische Auseinandersetzung mit einer Situation, in der sich alle befinden, und die deshalb auch gesellschaftsübergreifend funktioniert. Es handelt sich bei der Pandemie um ein globales Phänomen, das auch einen gemeinsamen Humorraum etabliert, weshalb ein Witz aus den USA auch in Europa verstanden wird.

für ad astra: Barbara Maier

Zur Person



Alexandra Schwell hat Europäische Ethnologie, Soziologie, und Politikwissenschaften an der HU Berlin und der AMU Poznań studiert. Sie ist Professorin für Empirische Kulturwissenschaften am Institut für Kulturanalyse der Universität Klagenfurt.


Alexandra Schwell