Das Ekel-TV, das auszog, zum grenzübergreifenden Medienereignis zu werden
Sarah Kohler, Senior Scientist am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, spricht aus Anlass der am Samstag startenden 12. Staffel von „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“ über die Erfolgsfaktoren des Formats, das angeblich niemand schaut, aber dennoch viele verfolgen.
Vorab, damit wir wissen, worüber wir reden: Ist das Dschungelcamp tatsächlich Reality-TV oder Scripted-Reality? Gehen die BewohnerInnen also nach vier Stunden Drehzeit am Tag duschen und dann ins Hotel oder spielt sich das Abgebildete tatsächlich ab?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass das, was wir im Fernsehen kondensiert sehen, tatsächlich passiert. Ich glaube also: Die mehr oder weniger Prominenten müssen diese Erfahrung wirklich durchleben und wir beobachten sie dabei als Individuen und in ihrer Gruppe.
Welches Ziel verfolgen die Bewohnerinnen und Bewohner des Camps?
Wir können feststellen, dass zu Beginn dieses Formats von ihnen hauptsächlich angegeben wurde, dass sie dies aufgrund einer Horizonterweiterung oder eines persönlichen Entwicklungspotenzials für sich machen. In den letzten zwei Staffeln zeigt sich aber, dass es auch Bewohnerinnen und Bewohner gibt, die selbstbewusst kundtun, dass sie Geld für ihr Engagement erhalten und selbstverständlich rein deshalb im Dschungel seien. Für mich ist die Botschaft dahinter interessant: Wollen wir als Publikum diese Authentizität überhaupt, dass die Promis den Geld-Faktor eingestehen, oder wollen wir lieber belogen werden, um in der Folge diese Lüge aufzudecken oder anzuzweifeln? Ich glaube, Authentizität ist für das Publikum zu langweilig; stattdessen wollen wir, dass sie eine Rolle spielen, uns aber vorgaukeln, sie wären authentisch.
Das TV-Format ermittelt über kostenpflichtiges Zusehervoting eine Dschungelkönigin oder einen –könig, der oder die auf eine zeitlich beschränkte Relevanz in der Medienlandschaft hoffen kann. Lässt sich aus den bisherigen Ergebnissen ablesen, welche Strategie beim Publikum besonders gut ankommt?
Ich würde behaupten: Es gibt kein Muster. Die Zuseherinnen und Zuseher wählen in der Regel aber tatsächlich jene, von denen sie den Eindruck gewinnen, dass sie es am meisten verdient haben, also besonders zäh oder durchhaltevermögend waren, und nicht zuletzt die Herzen erobert haben. Dabei zeigt das Publikum oft Unterstützung für jene, die eher unglücklich abgeschnitten haben oder in der Gruppe wenig Wertschätzung genießen.
Worin liegt Ihrer Wahrnehmung nach das Erfolgsrezept des Formats?
Bisher geht der mediale Diskurs vor allem vom Ekel-Faktor als entscheidend für den Erfolg aus. In diesen Besprechungen stehen die Dschungelprüfungen im Zentrum. Ich sehe diese eher in ihrer Funktion als Funken für neue Konfliktherde: Letztlich glaube ich, dass der Reiz darin liegt, dass durchaus konfliktreiche Gruppendynamiken abgebildet und geschürt werden. Uns als Zuseherin oder Zuseher interessiert dann, wie medial erfahrene Figuren die Extremsituation, zwei Wochen lang unter einem bestimmten Reglement eingesperrt zu sein, bewältigen.
Inwiefern spielen diese Dschungelprüfungen diese Rolle?
Schafft es ein Kandidat oder eine Kandidatin beispielsweise nicht, in einen Krokodilhoden zu beißen, erhält die restliche Gruppe für den restlichen Tag nichts mehr zu essen – abgesehen von Reis und Bohnen, was die BewohnerInnen jeden Tag als Basisernährung erhalten. Daraus ergibt sich Konfliktpotenzial, das für uns Zuseherinnen und Zuseher interessant ist. Im Camp wird mit vielerlei Kapital, im Sinne Bourdieus, gehandelt: Das können sowohl Zigaretten als auch Empathie sein, die wie eine Währung in der Gruppe wirksam werden. Die für mich interessanteste Aufgabe ist immer wieder folgende: Zwei KandidatInnen werden in einen vordergründig angenehmen Raum gebracht, wo eine Mahlzeit und Wein auf sie wartet. Sie müssen dann eine ganze Nacht lang wach bleiben und immer wieder eine Sanduhr umdrehen. Scheitern sie an dieser scheinbar einfachen Aufgabe, ist das Verständnis der Gruppe dafür wesentlich geringer. Es ergeben sich mitunter brisante Konflikte.
Inwiefern ist das Dschungelcamp neu gegenüber Vorgängerformaten?
Der wichtigste Vorläufer war definitiv „Big Brother“, die Wohngemeinschaft von „normalen“ Bürgerinnen und Bürgern, der wir via TV beiwohnen konnten. Das Dschungelcamp zeichnet im Vergleich dazu aus, dass hier Personen agieren, die vermeintlich wissen sollten, wie man mit Medien umgeht. Während das Interesse an Big Brother deutlich zurückging, ist der Erfolg von „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ bisher ungebrochen.
Das Fernsehen hat aktuell gegenüber so manchen Streamingdiensten das Nachsehen. Inwiefern kann es solchen Sendern weiterhin gelingen, das Publikum über zwei Wochen hinweg täglich vor den Fernseher zu bringen?
RTL ist mit den heutigen Möglichkeiten gut aufgestellt: Man muss sich ja nicht täglich um 20:15 Uhr vor den Fernseher setzen, sondern kann die Sendungen in der Mediathek allzeit abrufen. Dieses Angebot ist meines Erachtens auch unerlässlich.
Dem Dschungelcamp wird vorgeworfen, viele Grenzen zu überschreiten: Dies betrifft zum Beispiel die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit oder den Ekel, den zu überwinden in gewissem Maß auch eine Grenzüberschreitung ist. Welche Grenzen werden demnächst gesprengt?
Die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ist im Camp relevant; es ist aber für die Bewohnerinnen und Bewohner transparent, dass sie permanent beobachtet werden. Wir sehen aber auch, dass Privatheit gemeinsam mit Authentizität sehr langweilig sein kann: Wenn jemand stundenlang auf der Liege sitzt, raucht und in der Nase bohrt, nehmen wir zwar einen intimen Einblick, werden davon aber nicht unterhalten. RTL bietet uns daher einen Zusammenschnitt, also in gewisser Weise kondensierte Privatheit. Ich glaube, dass die Quoten nur über die Schiene der interessanten Gruppendynamik, die letztlich von den Gästen und von „zündelnden“ Showelementen abhängt, erhalten werden können.
Welche Rolle spielt das Storytelling um die TV-Show herum, also dass beispielsweise andere Medien darüber berichten?
Das Aufgreifen des Themas von anderen Medien wie Spiegel-Online mit einer täglichen Kolumne zeigt, dass das Dschungelcamp tatsächlich in einem öffentlichen Interesse steht. In Österreich und Deutschland lag es 2017 auf Platz 5 der meistgesuchten Begriffe auf Google. Die Sendung war 2013 für den renommierten Grimme-Preis nominiert, was für helle Aufregung gesorgt hat. Dass Medien darüber berichten, nützt dem TV-Format, aber sie müssen dies auch thematisch aufgreifen, weil ihnen sonst ein vielbeachtetes Thema des Tagesgeschehens entgeht.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person
Sarah Kohler ist Senior Scientist am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft. Kohler kam im April 2017 an die Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, davor war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, wo sie zum Thema „„Die Aggregation von Zeitdaten im Agenda Setting-Ansatz“ promoviert wurde.